Einar Schleef, Pensionär

17. Januar 2009. In den 90er Jahren habe ich manchmal versucht, mir Einar Schleef als alten Mann vorzustellen: altersweise, milde, ein bisschen müde. Es ging nicht, die Fantasie versagte, Schleef blieb in meiner Vorstellung immer ungefähr 50 Jahre alt. Die Haare Schleefs mochten wohl grau werden, aber zum zahnlosen Greis taugte er nicht. Er ist ja dann auch nicht alt geworden, im Juli 2001 wollte sein Herz den Raubbau des Künstlers am eigenen Körper nicht mehr mitmachen und blieb stehen.

Heute wäre Einar Schleef ins Rentenalter eingetreten. Schleef der Pensionist – eine seltsame Vorstellung. Aber eigentlich eine ganz richtige, denn Schleef beißt nicht mehr: Tote schlafen fest. Das einstige Dauerärgernis, der wandelnde Stein des Anstoßes, die personifizierte Zumutung ist plötzlich Everebody's Darling, jeder zimmert sich seinen eigenen Schleef zurecht: die Theatermacher berufen sich auf ihn und plagiieren ihn mitunter, die theaterwissenschaftlichen Institute stopfen ihn in ihre Theorien hinein – und siehe da! er passt vorzüglich, – die Kritiker haben ihn plötzlich alle schon immer lieb gehabt (nur Stadelmaier bleibt standhaft, er sei gelobt!), die Verlage pressen aus dem Nachlass heraus, was herauszupressen ist, und die Sangerhäuser veranstalten gemütliche Schleef-Heimatabende. So hat es die Nachwelt zuletzt also doch geschafft: Schleef ist rundgeschliffen, domestiziert, zahnlos eben. Er ist alt. Ich kann ihn mir vorstellen.

(wb)

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