Das Gedächtnis des Theaters

1. März 2009. Die überlebensgroßen Plüschhasen, die gestern Abend in Karin Henkels Choderlos-Laclos-Heiner-Müller-Christopher-Hampton Variation "Gefährliche Liebschaften" auf der Bühne des Deutschen Theaters Berlin auf den kommenden Frühling und das Ansteigen des Triebthermometers verwiesen, verweisen darüber hinaus noch auf etwas anderes: dass auch das Theater ein Gedächtnis hat. Denn man muss wissen, dass Karin Henkel, 1970 in Köln geboren, ihr Regiedebüt im zarten Alter von dreiundzwanzig Jahren am Hessischen Staatstheater Wiesbaden gab: mit Coline Serreaus Komödie "Hase Hase".

Nun handelt es sich bei den Protagonisten dieser Komödie über eine Familie am unteren Ende der sozialen Nahrungskette zwar nicht um Mitglieder der gleichnamigen Tierart. Vielmehr haben sie lediglich das Ängstliche, Hakenschlagende dieser Spezies in ihr soziales Repertoire übernommen. Bis auf das jüngste Kind, das Umgang mit Außerirdischen pflegt. Doch war die Autorin, wenn auch nur höchst indirekt, mit dem Deutschen Theater verbandelt, durch ihre Ehe mit Benno Besson. Besson, der außerdem "Lapin Lapin", wie das Stück auf französisch heißt, 1986 in Paris uraufgeführt hatte und der Anfang der 60er Jahre ans Deutsche Theater vor den Diadochenkämpfen nach Brechts Tod vom Berliner Ensemble geflohen war.

Damals war er zwar noch nicht mit Coline Serreau verheiratet, sondern es stand zunächst seine Eheschließung mit der Schauspielerin Ursula Karusseit bevor, die wiederum 1991 dann, als Besson schon mit Coline Serreau verheiratet war, in seiner deutschsprachigen Erstaufführung von "Hase Hase" am Berliner Schiller Theater als Mutter Hase brillierte. Neben Katharina Thalbach, die das Hase-Kind mit Draht zum Außerirdischen gab, und im wirklichen Leben ein wirkliches Besson-Kind war.

Am Deutschen Theater, das damals von Wolfgang Langhoff geleitet wurde, sorgte Benno Besson in den frühen 60er Jahren für ein paar Inszenierungen, die Nachkriegstheatergeschichte schrieben. "Der Frieden" nach Aristophanes von Peter Hacks zum Beispiel, wo unter anderem ein überdimensionierter Mistkäfer eine wichtige Rolle spielt. Oder im März 1963 Molières "Tartuffe", dessen Fassung Besson mit Hartmut Lange schrieb, und bei dem ein junger bulgarischer Student der Tiermedizin hospitierte, der Dimiter Gotscheff hieß und bald vom Veterinär- ins Regiefach wechselte. Vielleicht, weil er bei Besson gelernt hatte, dass sich Tiere auf dem Theater wesentlich umfassender behandeln lassen.

Das Gedächtnis des Theaters, wie man sieht, funktioniert nicht viel anders als das Freud'sche Unbewusste. Man surft assoziativ immer weiter. Wie durch das hyperlink-strukturierte Internet. Durch das Gedächtnis des Deutschen Theaters, das nun wiedereröffnet wurde, nachdem es lange renoviert und vom Asbest befreit worden ist. Wobei man speziell in Berlin mit der Befreiung vom Asbest immer auch irgendwie die Befreiung von der DDR-Geschichte assoziiert. Was wiederum zur Erinnerung an die letzte Renovierung des Deutschen Theaters führt, die 1982/83 noch zu Zeiten Erich Honeckers stattgefunden hat.

Damals, in den frühen 80er Jahren, da wurde im Zuge der Sanierung auch die sogenannte Pieck-Loge im ersten Rang entfernt, von wo aus der theaterbesessene erste und einzige Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, so ziemlich jede Premiere des Hauses sah. Nach seinem Tod im Jahre 1960, also ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Benno Besson sich Richtung Deutsches Theater zu orientieren begann, wurde Piecks Amt durch die Institution des Staatsrats ersetzt. Auch hat sich in der Folge die DDR-Kulturpolitik weniger mit dem Schauen als dem Verbieten von Theater befasst, weshalb auch eine Pieck-Loge nicht mehr zwingend von Nöten war.

Dieses Deutsche Theater, das nun schon wieder renoviert worden ist, hat aber neben dem anarchisch im Unbewussten wuchernden Gedächtnis seiner Zuschauer auch noch ein echtes, das sich in den Oberstübchen des Hauses befindet. Also da, wo es hingehört. Dort, im Theaterarchiv wird die Geschichte des Hauses und derer, die sie prägten, in staubigen Akten, Kisten und Regalen gehütet. Von Theaterzetteln, Fotos und Plakaten, die noch aus Zeiten Max Reinhardts stammen, bis zu Ordnern mit Korrespondenzen und Dispositionen, ist hier auch die ganze DDR-Geschichte des Theaters aufbewahrt. Und was seitdem geschah.

Dieses Archiv ist hierzulande eine ziemlich einzigartige Einrichtung und stammt aus Zeiten, als Theater noch eine Identität und keine Corporate Identity hatten. Als noch nicht hektisch jeder Intendant die alten Logos und Schriftzüge aus Angst vor den Geistern der Vorgänger entfernte und mit bilderstürmerischer Geste an die Neuerfindung selbst so tradionsreicher Häuser wie des Deutschen Theaters ging, die ja doch stets bloß eine simulierte Neuerfindung sein konnte. Denn nur weil man etwas ignoriert, verschwindet es ja nicht.

Und was das Beste ist: das Archiv des Deutschen Theaters hat auch einen, der es wie seine Westentasche kennt: den Archivar Hans Rübesame nämlich, der in der Geschichte des Hauses wie in seiner eigenen zuhause ist. Als Theaterarchivar ist Rübesame so ziemlich das letzte Exemplar seiner Gattung. Im Februar hat nun auch er nominell das Rentenalter erreicht. Gratulation von dieser Stelle – inklusive eines dreifachen Hurras! Und ein kleines Stoßgebet, dass er noch lange das Gedächtnis seines Theater bleibt. Dass auch die, die das Haus nach dem Ende dieser Spielzeit übernehmen, wissen, was für ein Pfund die Identität eines Theaters ist.

Sebastian Hartmann zum Beispiel lernt in Leipzig gerade, wie fruchtbar es sein kann, wenn man sich an Identität und Geschichte eines Hauses reibt. Und daran wächst.

(sle)


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