Abschied von der Schlange

26. März 2009. Es ist Zeit für ein Bekenntnis. Ja, ich bekenne: Ich habe von 1991 an in der Warteschlange beim Kartenvorverkauf fürs Berliner Theatertreffen gestanden. Jahr für Jahr. Nur einmal bin ich fremdgegangen und habe es an der Theaterkasse bei Karstadt im Wedding probiert – mit durchschlagendem Misserfolg: im folgenden Jahr stand ich wieder an der offiziellen Kasse in der Schaperstraße. Selbst als ich schon beruflich mit Theaterkritik zu tun hatte, habe ich mich doch immer wieder angestellt: ich war Teil der Schlange.

Ich habe mir Nächte um die Ohren geschlagen und die Warteliste bewacht, und frühmorgens um 6 Uhr habe ich mich dann mit all den anderen zur eigentlichen Schlange formiert. Und ich bin auch Jahr für Jahr in der Hierarchie der Schlange weiter aufgestiegen: Zur Nr. 1 habe ich es nie geschafft, aber im vergangenen Jahr war ich erstmals die Nr. 3 (dabei hatte ich schon alle Karten und war nur noch für Freunde tätig – aber die Schlange ist auch eine Leidenschaft). Ich habe in dieser Schlange überaus liebenswerte und skurrile Leute kennengelernt, manchmal alte, längst in Vergessenheit geratene Bekannte wiedergetroffen und sogar 1 1/2 Freundschaften geschlossen. Und mit all diesen Theaterverrückten habe ich die beinahe 20 Jahre hindurch debattiert und gefiebert, gefachsimpelt und gelitten, gegessen, getrunken und Karten gespielt.

Und das ist nun vorbei. Denn die Berliner Festspiele haben den Kartenvorverkauf reformiert. In den vergangenen Jahren hatte sich der Tod der Schlange schon schleichend angekündigt. Die gleichzeitig zugeschalteten Online-Käufer schnappten den an der Kasse leiblich Erschienenen per Mausklick die schmalen Restkontingente weg; ohnmächtig sahen's die übernächtigt Genarrten. 2009 aber geben die Festspiele der Schlange den letzten Rest, zertreten ihr endgültig den Kopf (und wer, wenn nicht ich, sollte die Festspiele in die Ferse stechen?). Der Kartenvorverkauf verläuft nämlich in diesem Jahr dreistufig: Bis zum 2. April darf man schriftlich vorbestellen (das war schon immer so, doch auf Grund der großen Nachfrage hat man hier nie alles bekommen). Als Neuerung darf man allerdings diesmal nur maximal fünf der neun eingeladenen Inszenierungen nennen, so dass sich der Enthusiast nun von vornherein keine Hoffnungen auf die volle Packung machen darf.

In der zweiten Stufe beginnt dann am 25. April der Online-Verkauf, bei dem pünktlich um 10 Uhr alle meine ehemaligen Mitschlängerinnen und Mitschlänger am Computer wie wild auf den wenigen übriggebliebenen Karten herumklicken werden, bis sich die Windows-Betriebssysteme aufhängen. Und dann, am 29. Juni um 14 Uhr, dann könnte die große Stunde der Schlange schlagen. Doch dann wird nichts mehr da sein: Restkartenverkauf nennen es die Festspiele. Die Schlange ist schlau genug, um zu wissen, dass das, weswegen man sich anzustellen pflegt – das Begehrteste vom Begehrten, die drei, vier echten Highlights –, dass das nicht mehr zu haben sein wird.

Triumphieren werden so die Sesselfurzer, die ohnehin außer Geld nichts einsetzen wollen, um ins Theater zu kommen (und denen es im Zweifel egal ist, welche der Vorstellungen sie sehen). Abgestraft aber werden die Freaks, die Unentwegten, die Hinterbänkler, die Salzigen in der Zuschauersuppe. Diejenigen, die bescheuert genug sind, auf ihren Schlaf zu verzichten, um ein paarmal ins Theater zu gehen. Die wenigen Wissbegierigen, die wirklich alles sehen wollen und auch alles dafür tun würden: sie haben nun keine Chance mehr. Wenn sie Glück haben, kriegen sie beim schriftlichen Vorverkauf drei Aufführungen zugeteilt, mit sehr viel Glück schaffen sie's dann noch irgendwie, sich beim Online-Verkauf zwei weitere zu sichern. 5 von 9. Das ist der Schlange zu wenig – und sie wird bitterlich weinen.

Es ist also vorbei. Ich werde das erste Mal seit 18 Jahren nicht mehr in der Schlange stehen. Das Theatertreffen wird sein treustes Publikum verlieren. Vielleicht sein kritischstes. Ganz sicher sein verrücktestes. Andere, weniger Kritische, weniger Verrückte werden statt dessen kommen. Die Festspiele wird das nicht stören. Aber traurig ist's doch.

(wb)

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