Dieses bisschen Abgrund

von Michael Laages

Rostock, 27. März 2009. Der Mut verdient ja Respekt. Aber zu was er führt, ist nicht zu ahnen. Jedenfalls war und bleibt es elend schwer für die neue Rostocker Schauspiel-Direktorin Anu Saari, ausgerechnet das Theaterland Finnland mit Musiktheater und Dramatik aus jüngster Zeit an der neuen Wirkungsstätte zu einer Art Heimat werden zu lassen. Auf der "Insel Yksinen" jedenfalls, das heißt: im jüngsten Stück von Laura Ruohonen, erweist sich die finnische Theatersprache einmal mehr als mäßig dramatisch.

Im April folgt nun sogar noch ein kleines Finnland-Festival, mit all den eigenen Rostocker Hervorbringungen dieser Saison, mit Gastspielen aus dem noch höheren Norden und Lesungen weiterer neuer Texte von dort, unter dem eigentlich viel versprechenden Titel "Theater ist eine Volkssauna!" Und doch drängt sich bisweilen das Gefühl auf, dass die finnische Präsenz auf deutschen Bühnen auch weiterhin auf Bearbeitungen der Filme von Aki und Mika Kaurismäki beschränkt bleiben könnte. Woran das liegt?

Besorgnis vor poetischer Behauptung

Vielleicht hat "Insel Yksinen" ja das Zeug zum Beispiel. Mit dem Titel fängt's an: "Einland", so hatte das Theater diese deutschsprachige Erstaufführung zunächst angekündigt, was durchaus die passend poetische Übersetzung des Titels war. "Yksi" benennt die Zahl "Eins" auf finnisch. Die Rückkehr nun quasi zum Originaltitel (das Stück heißt "Yksinen" und spielt halt auf einer Insel) wirkt ein wenig so, als habe sich im Laufe der Proben ein wenig Besorgnis vor allzu viel poetischer Behauptung breit gemacht. Und die wäre durchaus berechtigt.

Denn über wirklich starke poetische Überhöhungen verfügt Ruohonens Text eher nicht. Er breitet statt dessen eine potenziell dramatische Szenerie aus, einen Plot, der durchaus beunruhigend wirken könnte: mit zwei Frauen allein auf einer entlegenen Insel, ohne Aussicht auf schnelle Rückkehr nach Haus, weil der Außenborder des Motorboots ums Verrecken nicht mehr anspringen will.

Doch zur wirklich identitätsgefährdenden Verlust-Phantasie taugt der Text dann eben auch nicht. Zwar kommt überraschend noch "ein sehr junger Seemann" vorbei und setzt plötzlich neue Gewichte zwischen den zunehmend zwanghaft wie aneinander geketteten Frauen. Es könnte auch gut sein, dass die beiden im Finale (nach dem Abschied vom möglichen Retter und Erlöser) sogar beschließen, auf keine Rückkehr ins wirkliche Leben mehr zu hoffen. Aber diese denkbaren dramatischen Wendepunkte, dieses bisschen Abgrund in der Geschichte, bleibt wie zugeschüttet unter sehr viel Plauderton. Selbst dort, wo die beiden Damen antreten zum politisch-polemischen Gefecht.

Auf keiner Karte verzeichnet

Diese kleineren Scharmützel bleiben denn auch am stärksten in Erinnerung: zwischen der pensionierten Augenärztin einerseits, die auf einer Insel in den Schären vor der finnischen Küste eine Klinik bauen lassen will, vor allem aber (und um jeden Preis nach eigenen Vorstellungen) ein Haus als Denkmal für den längst verstorbenen Gatten, und andererseits der Architektin, die noch ziemlich grün im Geschäft zu sein scheint und offenbar ebenso grüne Bau-Ambitionen mit sich herum trägt.

Die erste Begegnung dieser zwei steckt voller kleiner Merkwürdigkeiten. Warum zum Beispiel hat die ältere der jüngeren Frau eine Landkarte zukommen lassen, auf der "Yksinen", dieses Einland-Eiland, gar nicht vorkommt? Warum will sie das Privathaus auf den Trümmern eines ursprünglichen Insel-Gemäuers gründen? Weshalb behelligt Frau Doktor die Vertreterin einer jüngeren Frauen-Generation sofort mit so viel abgestanden-vorzeitlichem Ur-Feminismus? Und warum hat sich andererseits die junge Mutter (die immer mal wieder zu Hause anzurufen versucht, wo mit dem Kind auch nicht alles zum Besten zu stehen scheint) so wenig professionell vorbereitet auf diesen Auftrag, den ersten richtig großen zumal?

All diese Spuren sind ausgelegt, mal kleinere, mal größere Details. Aber sie erfahren keine Zuspitzung. Auch wenn später ein Gewehr ins Spiel kommt und sogar Schüsse. Die Alten, die Jungen, Einsamkeit und Tod – alles da, alles "angedacht"; aber wohin führt's uns denn?

Am Rande der finnisch bewohnten Welt

Sandra-Uma Schmitz als junge Architektin und Barbara Bachmann, ehedem eine der Haupt-Protagonistinnen von Christoph Schroth in Cottbus, gehen gleich zu Beginn ziemlich kernig zur Sache: Bachmann eher breit und bräsig, im Vollbesitz von Lebenserfahrung und Erfolgsgeschichte, inklusive satt-ironischer Verachtung für all jene, die nicht so sind wie diese Figur, Schmitz mit dem Furor der nicht mehr ganz jungen Jugend, die schon fürchten muss, zu spät zu kommen und immer noch kein nennenswertes Ideal verwirklicht zu haben. Die beiden gehen kräftig aufeinander los – aber viel zu bald, so scheint es, gehen ihnen die Sottisen aus.

Zu wenig abstrakt ist das Ganze, immer will es nur realistisch sein – das ist das Defizit. Vielleicht ließe sich mehr machen auf und aus dieser Insel – die es immerhin auf keiner Karte gibt, die Niemands- und Nirgendwo-Land ist. Und was, wenn Marko Dyrlich eben nicht nur der junge Mann wie von der Insel Nebenan wäre, von "Kaksinen" sozusagen ("kaksi" heißt "zwei")?

Regisseurin Milena Paulovics lässt derlei Rätsel unerkundet, und auch Mike Hahnes Bühne bleibt nur niedlich: mit dem Boot samt Motor und einem Podest mit kleinen Pflastersteinchen drauf. Ein Drama vom Beinahe-Verlorensein am Rande der finnisch bewohnten Welt jedenfalls kann so nicht entstehen. Und schon gar keine "Volkssauna" – die fremde, schöne Welt der Finnen bleibt auch diesmal unerkannt.

 

Insel Yksinen
von Laura Ruohonen
aus dem Finnischen von Angela Plöger
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Milena Paulovics, Ausstattung: Mike Hahne.
Mit: Barbara Bachmann, Marko Dyrlich, Sandra-Uma Schmitz.

www.volkstheater-rostock.de


Mehr Finnland in Rostock? Zuletzt inszenierte Esther Undisz Mitte März 2009 die deutschsprachige Erstaufführung von Pirkko Saissos Stück Fühllosingkeit.

 

Kritikenrundschau

Man spüre an diesem Abend den Schalk, mit dem Laura Ruohonen (Jahrgang 1960) das Bedürfnis umspielt, "menschliche Haltungen und Charaktere zu taxieren und auf den Punkt zu bringen", so Dietrich Pätzold in der Ostsee-Zeitung (30.3.2009) Dieses Spiel bestimme den ganzen Abend. Zunächst streiten die Frauen über das Wunsch-Haus, als "die Gefangenschaft auf der Insel die mitgebrachte gesellschaftliche Rangordnung außer Kraft setzt und nacktes Überleben in den Vordergrund rückt, wird der Streit existenzieller und grotesker" und reiche bis zu Fragen von Überlebensfähgkeit und –würdigkeit. Regisseurin Milena Paulovics habe dieses sonderbare Spiel, "das weder Komödie noch Groteske, weder Endspiel noch Thesenstück ist, aber von alldem etwas hat", mit behutsamer Distanz in Szene gesetzt. "Kühl und düster wirkt dieses Eiland der Entfremdung, eine Nebelmaschine setzt eigene Akzente", und viel von seinem Reiz erhalte die Aufführung durch den Klang der Stimmen. Bei Barbara Bachmann als Hilpi reiche das von der Routine der Auftraggeberin über die lässige Herablassung der Stärkeren bis zu brüchiger Melancholie. Sandra-Uma Schmitz gelange von Haltungen jugendlicher Begeisterung über Anflüge von Besessenheit zu einem kraftvollen Trotz und dann behutsamen Zweifel.

 

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