Arsen und Spitzenhäubchen - Sebastian Hartmann radikalisiert Joseph von Kesselrings schwarzen Humor
Strobelmüller im tiefsten Tal der Einsamkeit
von Ralph Gambihler
Leipzig, 2. April 2009. Dieser Vorhang ist nicht bloß ein Vorhang. Er ist auch ein Gelächter über sich selber in Form einer bühnenbreiten Schabracke mit sehr viel rotem Stoff darunter. Wenn diese opernhafte, nun ja, Vorhangparodie am Anfang gravitätisch auseinander gerafft wird und damit den Blick auf die Kulisse freigibt, ist das bereits ein erstes Statement. Achtung, prunkende Leere! Mit dieser Warnung beginnen in Leipzig drei ziemlich grelle Stunden, in denen es vordergründig nur darum geht, wie verschiedene Leute verschiedene Leichen verschwinden lassen, um Komisches also, derweil hinter der Bühne die Regie eine Gardinenpredigt zur Frage der Unterhaltung hält.
Denn unterhaltend ist dieser 1939 entstandene Evergreen des schwarzen Humors, mit dem der Deutschamerikaner Joseph von Kesselring in den vierziger Jahren reich und berühmt wurde. Der Broadway war seinerzeit so von "Arsen und Spitzenhäubchen" hingerissen, dass sogar Hollywood warten musste. Mit Rücksicht auf die Kollegen vom Theater kam Frank Capras Verfilmung mit Cary Grant erst 1944 in die Kinos, drei Jahre nach der Uraufführung des Bühnenstücks und mitten im Bombenkrieg gegen Hitler.
Und im Keller: Panama
Unbarmherzig tickt in Leipzig eine Uhr, sobald die "gute alte Zeit" im Hause Brewster ganz zu erstarren droht. Das sind die seltenen Momente der Reglosigkeit im von Susanne Münzner historisch korrekt ausgestatteten Salon der alten Tanten Abby und Martha. Es kann aber nicht lange dauern, bis dieser Hort der Betulichkeit wieder in den Horror kippt. Die beiden Damen (Barbara Trommer und Ellen Hellwig) sind nämlich darauf spezialisiert, alleinstehende Herren mit Arsen und Strychnin ins Jenseits zu befördern und darin auch noch einen Akt des Erbarmens zu sehen. Die Leichen werden natürlich im Keller der Villa entsorgt, wo der hoffnungslos verrückte Neffe Teddy (Sebastian Grunewald), der sich für Theodor Roosevelt hält, den Panama-Kanal auszuheben glaubt.
Der Mord ohne Skrupel und Reue ist das Skandalon, aus dem Kesselring seine verkehrte Welt gezimmert hat. Er vergrößert und kultiviert sozusagen den Wahnsinn, um ihn boulevardgerecht zu zelebrieren. Sebastian Hartmann eignet sich diesen Stoff nun aktualisierend und verfremdend an. Er lädt ihn popkulturell auf, überhöht ihn, überzeichnet ihn. Seine Komödie ist eine radikal groteske Komödienparodie über Entertainment und Wahnsinn. Nebenbei wird die Inszenierung zur kleinen Replik in Sachen Spiralblock-Affäre. Der Theaterkritiker Mortimer gibt dafür eine leicht nutzbare Folie ab. Als "Strobelmüller" alias Stadelmaier muss er durch die Täler tiefster Einsamkeit.
Kein wohliger Komödienflausch also, kein plüschiges Ablachen, stattdessen Verballhornungs-Furor über das lackierte Nichts. Die Pfarrerstochter Elaine von Sarah Sendeh beispielsweise ist eine dunkelhaarige Desiree Nick-Karikatur von der ganz heftigen Sorte. Clemens Schönborn quäkt und lispelt den Gesichtschirurgen Dr. Einstein mindestens so penetrant wie Jerry Lewis (oder ist's ein anderer?). Maximilian Brauer gibt den finsteren Neffen Jonathan mit zartem Kinsky-Hau. Winnetou dagegen erscheint nur als Winnetou, reitet aber auf einem unangebracht echten Pferd. So kühlt die Regie ihr Mütchen in den seichten Gewässern des Unterhaltungsgewerbes. Das ist ein leichtes Opfer, ein leichteres ist kaum zu haben.
Befreites Rumpeln auf dem Urgrund des Banalen
Der Abend hat das Hohle und das Alberne gepachtet und vollendet beides zum kunstvollen Horror. Er ist selber seicht, er will es auf monströse Weise sein. Die Schwäche einer solchen Regie ist, dass die Blaupause in jeder Szene durchscheint, sobald man sie erkannt hat. Aber wenn man erst einmal auf dem Urgrund des Banalen angekommen ist, rumpelt diese Radikalkomödie erstaunlich robust darüber hinweg.
Das Bemerkenswerte an diesem intellektuell abgezirkelten, in haarsträubender Lächerlichkeit schwelgenden Abend ist aber die Lust und die Finesse der Darsteller. Wie sie spielen! So befreit! So göttlich haltlos! Das Ensemble scheint sich gefunden zu haben in dieser Hölle des galoppierenden Schwachsinns. Die schönsten Einlagen zeigt wohl Holger Stockhaus als hysterisch verschreckter, motorisch schwerstauffälliger Kritikus Mortimer, der aus seinem Schock über die vielen Leichen nicht mehr herausfindet, aber auch einräumt, dass auf seinem Friedhof "mancher Regisseur begraben" liegt. Später fährt ihm auch das "ö" in alle Vokale, man kann es gut verstehen.
Arsen und Spitzenhäubchen
von Joseph Kesselring, Deutsch von Helge Seidel
Regie: Sebastian Hartmann, Bühne und Kostüme: Susanne Münzner, Musik: Friederike Bernhardt.
Mit: Maximilian Brauer, Sebastian Grünewald, Ellen Hellwig, Peter René Lüdicke, Sarah Sandeh, Clemens Schönborn, Holger Stockhaus, Barbara Trommer.
www.centraltheater-leipzig.de
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Kritikenrundschau
Sebastian Hartmann mache aus "Arsen und Spitzenhäubchen" am Leipziger Centraltheater eine "lärmend schräge Pop-Show, eine böse Persiflage auf alle und alles", schreibt Gisela Hoyer in der Leipziger Volkszeitung (4.4.). Das mögliche Motto dazu laute: "Das Irrenhaus ist längst überall, keine Rettung, nirgends." Hoyer vermutet implizit, dass Hartmann mit der Inszenierung durchaus auch dem in der Stadt laut gewordenen Ruf nach "mehr 'Werktreue' und weniger Nebel, mehr Traditionalismus und weniger Experiment, nach mehr Unterhaltung" ein Stück weit gefolgt sei. Diese biete er nun also, "gnadenlos, bis zum Abwinken". "Musical-Einlage trifft auf Football-Video trifft auf Quatsch Comedy trifft auf das Proletariat in der U-Bahn, Lololo-lita oder den Spiralblock. Monty Python lässt grüßen, Schmidt und Pocher dito; das Publikum johlt." Der Regisseur kultiviere den Wahnsinn, "köchelt ihn Boulevard-gerecht, während er die Story verfremdet, überhöht, überzeichnet. Zur Radikal-Groteske über Entertainment und all den ganz normalen Irrsinn der Realität".
In der Mitteldeutschen Zeitung (6.4.) hat Andreas Hillger es fast vorausgesehen, dass Hartmann "Arsen und Spitzenhäubchen" und die Figur des Theater hassenden Kritikers Mortimer "als Grußadresse an jene Zunft nutzen würde, die ihm spätestens seit seiner Frankfurter 'Spiralblock-Affäre' (...) auf den Fersen ist". Auf der Bühne werde ein "Sperrfeuer der Einfälle inszeniert, wie man es selten zu Gesicht bekommt". Es sei "alles da, was das Theater zum Durchdrehen braucht" – "ein Fest für die Schauspieler, das die Regie hier ausrichtet", und eine "große Liebeserklärung an das Theater auf dem Theater". In Holger Stockhaus als Mortimer und Sarah Sandehs Elaine finde der Abend dabei "seine virtuos verblasene Mitte".
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Hallo "Links sind besser",
das stimmt, was Sie sagen. Aber, ABER: Sie finden alle Hartmann-und-Leipzig-Texte mit Kommentaren, wenn Sie das gewünschte Stichwort unter "Suche" eingeben (rechte Spalte, oben).
Viele Grüße,
Dirk Pilz
Die Premiere zu "Arsen und Spitzenhäubchen war höchst amüsant, trotz 2h 40 Spieldauer zu schnell vorbei und mit einem Tiefgang, der scheinbar in jedem Hartmannstück steckt.
Witzig-sinnvolle Wortspiele, die auf Grund der schnellen Abfolge dieser, gar nicht alle sofort aufzunehmen sind.( Das bemerkt man im Vergleich zur offenen Probe vom 26/03709)
Sich verausgabende, überzeugende Schauspieler-bravo!-aber auch gute Handlungsanweisungen, Herr Hartmann!
Und eine Vieldimensionalität an Inhalten (gespickt mit sehr witzigen Aktuellkritiken) in das eigentliche Stück gewoben- wirkungsvoll alle Aufnahmenkanäle des Rezipienten ansteuernd- das ist einfach genial!
Oder soll sie das???
Da fällt mir noch ein Satz aus dem Stück ein: "Brett vorm Kopf - Aus dem Leben eines Theaterkritikers".
die anderen stücke von hartmann (insbesondere puplikumsbeschimpfungen und eines langen tages...) haben mir besser gefallen. menschen zum lachen zu bringen und dabei niveau und anspruchsvoll zu bleiben ist gar nicht so einfach.
mag ja sein das - wie mir gesagt wurde - alles tiefgreifende botschaften sind und der (leipziger theater) gesellschaft ein spiegel vorgehalten werden soll und so. und es ist nicht ganz originell, eine komödie zu verkaufen, die gar keine ist...tut mir leid aber ich kann darin nichts anderes als schwachsinn sehen und dieser ist auch noch sehr langweilig umgesetzt. (trotz großartigem spiel von frau trommer und frau helwig). den rest der darsteller fand ich leider nur anstrengend und nicht im mindesten witzig. bei holger stockhaus seinen slapstick einlagen fühlt man nach den ersten paar minuten wirklich nicht mehr mit. und auch der rest bleibt langweilig und immer gleich. eine stunde hätte da wirklich gereicht.
und auch wenn das leipziger theater ja nun endlich "so toll" ist - also vor hartmann und seiner truppe hat es sich schon auch gelohnt...(obwohl man mit den vergleichen wirklich mal aufhören sollte!)
mir fällt da auch ein satz aus dem stück ein: "man soll die hoffnung nur nicht aufgeben..."
Und weil alle so fröhlich aus dem Stück zitieren, schließe ich mich gleich mal an: "Da schaff ich es nicht mehr zur Nachtkritik..."
wie gesagt die puplikumsbeschimpfungen fand ich toll.
es muß ja auch nicht allen alles gefallen,und bitte: dieses kräftemessen(oper...) ist doch peinlich.muß man sich denn ständig über "konkurrenz" oder irgendwelche "überregionale aufmerksamkeit" definieren?!
Jaa... etwas "Lustiges" kann man möglicherweise bei der Lachmesse erleben. Aber davon war im Beitrag 14 m.E. nicht die Rede.
da sieht man was mit den stücken im centraltheater scheinbar gefördert wird. abgestumpfte arroganz.
ICH habe selten so dumme, pupertäre unfähigkeit mit kritik umzugehen erlebt wie in den letzten monaten, in diesem ehemals so schönem haus.
Mit solchen dämlichen Kommentaren wie 17 und 15 geht ja echt die Hutschnur putt.
So manche gebrauchten Stielmittel im ach so tollen, ober-coolem "CT", sind nur noch peinlich.
Schon im Don Juan musste sich der Oberbürgermeister ein klatschen erzwingen.
Ihr "CT" (schon die Abkürzung ist peinlich) Gutfinder kommt wohl entweder aus der Gosse, oder wisst nichts von Theaterkunst.
Grüße an "enttäuscht"
was ist denn "theaterkunst", wenn die hier in leipzig anscheinend so schmerzlich vermisst wird? wo findet die denn dann statt?
Danke, dass du dich endlich auch "mal eingeschaltet" hast! Denn was sollten wir ohne deine gewitzten Beiträge denn machen!
Nur eine Bitte: Achte doch das nächste Mal ein bißchen mehr auf die Bühne und weniger auf deinen Oberbürgermeister. Vielleicht hilft das.
P.S.: Mein Vorschlag für die Unwörter des Jahres:
RECHT!!! und Theaterkunst.
Grüße nach Leipzig und an Kruse aus den Tiefen der Gosse. Seid froh!
ach agnes (oder soll ich gleich "liebeR MitarbeiterIN vom "CT" schreiben?). deine permanente hartmann-jubelhaltung langweilt! wackelt dein dramaturginnenstuhl im "CT" so sehr, dass du immer die gleiche leier abspielen mußt?
dirty r
und die meinungen von manch einem "belesenen theaterliebhaber" oder meinetwegen stadiongänger sind teilweiße wirklich plump und voller vorurteile. nicht jeder der mal mit einem stück von hartmann nichts anfangen kann ist deshalb gleich spießig, konservativ oder dumm und unkultiviert. da braucht man sich über entsprechende reaktionen nicht zu wundern.
und hartmanns antwort auf die frage nach einer komödie ist ähnlich geartet. das ist keine provokation der "spießigen leipziger theatergänger" , sondern meines erachtens mehr einfallsloßigkeit.
@ leipziger- trotzdem danke für den beistand.
Ich finde es schon schade, dass hier nicht gestritten, sondern verbal geboxt wird. Es arbeitet wohl sicher nicht jeder, dem hier was gefällt an besagtem Hause und es sind auch nicht alle Kritiker im Musikantenstadl-Fanclub.
Das Verweigerungstheater des "Don Juan" wiederum bringt in seiner Radikalität eine andere Note rein. Bildtrunken, jedoch dünn gedacht. Was sagt das über das Haus im Ganzen? Mir wäre etwas mehr Differenzierung lieb, Freunde der Engelära hüben und Freunde des Angelus novus drüben.
Und übrigens, der OB wirkte in "Eines langen Tages Reise in die Nacht" sehr angetan. Das ist natürlich kein Argument, aber das oben (@19) ist eben auch keines.
hier wird nicht diskutiert, hier wird schon gar nicht argumentiert, hier wird bis aufs blut ge- und bekämpft. ich frage nur nach argumenten: was ist denn diese "theaterkunst", die den leipzigern ja angeblich völlig fehlt? was sind bzw. wären denn die alternativen, und wo?
derlei aussagen sind doch schwammig und keine diskussionsgrundlage, sondern pure feierabendpolemik.
mein dramaturgenstuhl steht übrigens weit abseits des centraltheaters, dafür aber mit allen rollen fest auf dem boden, danke der nachfrage.
@turbo: bevor man die redakteure um zensur bittet, sollte man vielleicht sein eigenes Statement auf Unterstellungen und persönliche Angriffe prüfen, oder?
Ein winziger Moment am Abend: Ein mörderisch langer Kuss sollte wohl nicht nur den Kritiker innehalten lassen! Aber die meisten könnten sich, womöglich verständnislos befremdet, von solch skurril-intimen Museszenen abwenden. Vielleicht weil diese völlig überraschend und scheinbar zusammenhanglos passieren. Man muss schnell sein bei diesem Regisseur, der in rasantem Tempo mit Gefühlen spielt. Auch wenn es sich scheinbar endlos wiederholt. Es ist doch jedesmal anders. Wie im Leben. Nicht schlecht das Ganze. Sogar spannend. Jedenfalls für mich.