Toter Fisch, direkt in die Fresse geklatscht

von Irene Grüter

Berlin, 17. Juni 2007. Wenn das Programmheft einem Bestattungsunternehmen für die freundliche Unterstützung dankt, wenn der Titel des Abends "Schock" lautet und Zettel am Eingang vor extremer Lautstärke warnen, betritt man den Zuschauerraum in einer Haltung angespannter Wachsamkeit.

Ganz so wild wird es bei diesem Gastspiel des HAU im Haus der Berliner Festspiele dann aber doch nicht. Vielmehr beginnt die Inszenierung von Viktor Bodó, gefeierter Jungregisseur aus Budapest, der im Januar in den DT-Kammerspielen inszenierte, mit einem alten Theatermittel: dem perspektivischen Blick auf den Außenraum.

Durch den leeren Zuschauersaal wird das Publikum auf die große Bühne geführt, auf eine kleine Tribüne, dicht vor dem eisernen Vorhang. Er fährt hoch, gibt den Blick frei auf eine Lagerhalle, das Tor weit geöffnet zum Parkplatz. Im Gegenlicht zeichnen sich die Umrisse von zwei Männern ab, der eine (Schnäuzer, Russenpelz, Sonnenbrille), erklärt dem anderen (Basecap, Kippe, Trainingshose), der Raum eigne sich vorzüglich für Geschäfte aller Art. Der Besitzer lehnt ab, der Mafioso verschwindet, ein Bestattungswagen fährt vorbei.

Draußen fährt fahrerlos ein Fahrrad vorbei

Der lakonisch-skurrile Humor, mit dem die Regie den Außenraum als Bühnenbild bespielt, erinnert an Aki Kaurismäkis Filmsprache. Überhaupt erzählt Viktor Bodó mit stark filmisch geprägten Mitteln, setzt kleine Geschichten in schnittartigen Montagen aneinander. Aus dem Radio schnulzt ein ungarischer Schlager, "Ich versuche dieses Gesicht zu behalten von Dir, Ungarn", draußen fährt fahrerlos ein Fahrrad vorbei.

Dann stemmt eine Frau, vermummt wie für den russischen Winter, ein Auto ins Blickfeld. Ein Anzugträger steigt aus und erklärt, sein Haus sei verpfändet worden. Der Auftritt des zweiten Paares erfolgt als Unfall, ihr Wagen knallt dem Geparkten aufs Heck. "Du bist die Summe Deiner Entscheidungen", erklärt der mümmelnd kichernde Mann, begleitet von der schnarrenden Stimme seiner Frau. Der Monolog führt über die Faktoren des Glücklichseins zur Einsicht: "Im Grunde brauchen wir zehn Millionen." Die Vermummte lacht bis zum Erbrechen; später liegt sie am Bühnenrand und steht auch zum Applaus nicht mehr auf.

Illusionen, Hoffnungen, Geld. Nichts davon ist diesen abgehalfterten Gestalten geblieben. Zwei Knastbrüder schrecken das schlafende Paar im Dunkeln auf, verlangen nach einer kurzen Prügelei eine ordentliche Heimkehr-Feier. "Für ne Party braucht es vor allem vier Dinge: Frauen, Frauen, Frauen, Frauen." Und das sind sie auch schon, Sesi, Susi, Sonja und Sisa, viermal Ost-Nutten-Klischee, und ab geht die Post. Große Showeinlage, Stroposkoplicht, Schenkelwackeln auf den Tischen und drunter, von Russisch bis Salsa.

Und auch sonst bleibt das Menschliche schemenhaft

Dynamik ohne Ende, und doch verliert der Bilderbogen seine Ursprungskraft, driftet ab in eine Revue des schwärzesten Humors, in der jede Nummer die nächste zu toppen versucht. Die Inszenierung, so überwältigend sie begonnen hat, erschöpft sich in immer neuen Metaphern auf dasselbe Thema: Eine aus dem Ruder gelaufene Welt, in der einem, der übers Denken sprechen will, ein toter Fisch in die Fresse geklatscht wird.

"Deutschland sucht den Supergenickbrecher" heißt eine Szene in derber Symbolik, es wird gevögelt, gesoffen, gekotzt und geschissen, und die Kombination von Trash und Slapstick wirkt trotz des beherzten Einsatzes der Schauspieler irgendwann aufdringlich. Zumindest in diesem Kontext. Entstanden ist die Arbeit in Nyiregyhàza, einer Stadt im ukrainisch-ungarischen Grenzgebiet, und bezieht sich, so das Programmheft, als dritter Teil einer Serie auf die dortige Lebensrealität.

Handwerklich arbeitet Viktor Bodó gekonnt bis zum Verspielten, Gitarren sausen zur richtigen Sekunde aus dem Bühnenhimmel, Stühle, auf die sich gerade einer setzen wollte, brechen zusammen, Auf- und Abtritte sind perfekt gelöst. Nur die Menschen selbst bleiben schemenhaft im betriebsamen Geschehen. Vielleicht, weil die Dramaturgie für Nicht-Ungarischsprachige irgendwann schwer nachvollziehbar wird. Urplötzlich steht die ukrainische Mafia vor der Tür, metzelt alles nieder. Als jeder im eigenen Blut röchelt, erscheint eine Erlöserfigur, – leider versagt hier die Übertitelung, und die entscheidende Rede bleibt unverständlich.

Draußen knallt eine gräuliche Weltkugel auf den Parkplatz und wird, unter lautem Palaver, herumgerollt. Wohin, weiß keiner. Selbst nach dem höflichen Applaus geht die Betriebsamkeit weiter, ein Ärzteteam kümmert sich um die liegen gebliebene Figur am Bühnenrand, doch da ist ein Großteil des Publikums schon nicht mehr da. Schade,  dass die große Tragikomik des Anfangs im Dauerslapstick eines kleinen Ganovenstücks versackt.

 

Kritikenrundschau

Christine Wahl macht sich im Tagesspiegel (19.6.2007) ein wenig lustig über diese "krachfidele Geburtstagsfeier mit Pulp-Fiction-Appeal". Die Story von "Schock" sei "elend dünn", der 29-jährige Shooting Star der internationalen Festivalszene interessiere sich wohl auch nur wenig für so "spießige Details wie Handlungslogik". Vielmehr wirke die "postsozialistische Prekariatsparty" wie der Versuch, Bódos Vorliebe "für Slapstick, Filme von Orson Welles bis Monty Python, Musicalkitsch und eine sehr gegenständliche Form des absurden Theaters" mit den "öligen Niederungen des Drogen- und Unterschichtenmilieus" zu verknüpfen.

 

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