Amanullah Amanullah - Frank Castorf hat in der Berliner Volksbühne einen schönen Schwank aus den Zwanziger Jahren inszeniert
So einen verwechselten Monarchen gibt es nur in Berlin
von Dirk Pilz
Berlin, 9. April 2009. Das Bühnenbild dieses Abends im neu renovierten Prater erinnert an René Polleschs heitere Volksbühnen-Inszenierung L' affaire Martin! etc. vor drei Jahren. Ob dies etwas zu bedeuten hat, ist aber nicht auszumachen. Wahrscheinlich spielt es keine Rolle. Es ist jedenfalls ein schönes, auch praktisches Bühnenbild: eine lange Prospektwand mit zwei wackligen Sperrholztüren und einem aufgemalten Kamin, davor hübsche Chippendale-Möbel. Am Ende wird es in Trümmern liegen, auch das ist sehr schön.
Überhaupt ist dies ein schöner Abend. Volker Spengler sitzt mit lustiger Mütze im Sessel, Sir Henry mit lustiger Uniform am Klavier, Marc Hosemann mit lustigem Bart auf dem Sofa. Und die Frauen wechseln oft ihre schönen Kleider durch noch schönere aus: Rosalind Baffoe trägt erst Abendgarderobe, dann erscheint sie im kleinen Schwarzen, Anne Ratte-Polle geht im hellblauen Rüschenkleid hinaus und kommt mit einem kurzen in Beige wieder herein, Franziska Hayner stehen wehende Stoffe gut.
Ein König!
Trefflich ist obendrein, dass diese Kostümierung bestens zum Stück passt. Denn gespielt wird der dreiaktige Schwank "Hulla di Bulla" der beiden Schauspieler Franz Arnold und Ernst Bach, der 1929 in Berlin uraufgeführt und 1967 von Georg Marischka verfilmt wurde. Das Stück nutzt eine historische Begebenheit als Vorlage für eine Verwechslungskomödie: 1928 kommt der afghanische König Amanullah Khan zum Staatsbesuch nach Berlin. Die Berliner waren damals begeistert von diesem fremden König.
Bei Arnold und Bach muss für König Amanullah kurzfristig ein anderes Quartier gefunden werden. Er wird im Palais Prinz Albrecht untergebracht, wo allerdings gerade ein Kinofilm über einen Staatsbesuch des afghanischen Königs Amanullah gedreht wird. Das stiftet einiges an Verwirrung. Außerdem tauchen im Königsquartier ein jüdischer Banker, ein Kleingauner, eine Vertreterin des Außenministeriums und der Palais-Besitzer auf, die alle auf ihre Weise Profit aus dem Königsbesuch schlagen wollen. Auch das sorgt für reichlich Durcheinander.
Ein Schwank!
Frank Castorfs knapp dreistündige Inszenierung geht überaus werktreu vor – das Durcheinander wird nie vereinfacht, sondern bleibt immer erhalten, verstärkt noch dadurch, dass die Schauspieler mehrere Rollen gleichzeitig übernehmen. Daneben achtet seine Regie stets darauf, die erprobten Mittel des Schwanks einzusetzen. Die Auf- und Abtritte der Figuren werden von heftigem Türenschlagen begleitet, die Schauspieler dürfen viel die Augen verdrehen, entgeisterte Gesichter und große Gesten machen. Zwischendurch gibt es verschiedene Liedeinlagen.
Der größte aller Schwank-Meister ist ohne Frage Marc Hosemann, weil er sehr schön tanzen und mit den Augenbrauen Zeichen geben kann. Für großes Vergnügen sorgt aber ebenso Georg Friedrich in der Rolle des afghanischen Königs, weil er mit österreichischem Akzent spricht und äußerst komisch den Frauen an die Wäsche geht. Volker Spengler glänzt gleichfalls mit seinen Auftritten, vor allem, wenn er am Ende im Sessel einschläft.
Unterm Teppich!
Zwischendurch streut Frank Castorf Szenen ein, die Antonin Artauds 1933 gehaltenen Vortrag "Das Theater und die Pest" zitieren. "Wenn die Pest in einem Gemeinwesen herrscht, gerät die Ordnung aus den Fugen", heißt es darin. In einem einprägsamen Monolog trägt Anne Ratte-Polle einmal eine längere Artaud-Passage vor. Sie schreit, bis sie Schaum vor dem Mund hat. Hier gab es viel Zwischenapplaus. An einigen Stellen werden außerdem Passagen aus Heinrich Zilles "Hurengesprächen" verwendet. Auch das passt gut zum Stück, vornehmlich der wiederholte Ausruf "Das gibt es nur in Berlin!".
Außerdem überrascht die Regie mit mehreren amüsanten Einfällen: Fünf Personen nehmen auf einer Drei-Personen-Chaiselongue Platz; in einer Szene verstecken sich die Schauspieler unter dicken Teppichen und kriechen wie Käfer über die Bühne, in einer anderen wird ausgiebig eine gebratene Gans verspeist. Den Castorf-Kennern bereitet daneben Vergnügen, dass bei den im Stück enthaltenen Sentenzen über Regietheater die Stadt Anklam erwähnt wird. Castorf hat als junger Mann einst in Anklam gewirkt.
Erwähnt werden muss überdies, dass am Ende Jorres Risse als Nazi auftritt. Er ist ein "Hilfsregisseur" der Filmproduktion, wahrscheinlich spielt das aber keine entscheidende Rolle.
Zum Schluss hat das Publikum lange und laut applaudiert. Es hat einen sehr schönen Schwank erlebt.
P.S. Hinzuweisen ist noch darauf, dass die Volksbühne diese Inszenierung unter dem Titel "Hulla di Bulla" angekündigt hat, diesen aber kurz vor der Premiere aus rechtlichen Gründen in "Amanullah Amanullah" ändern musste. Dem Vernehmen nach liegt dem Haus eine einstweilige Verfügung des Stück-Verlages vor, weil dieser offenbar durch die Regie den Text verfälschend wiedergegeben glaubt. Dieser Vorwurf ist nach Ansicht der Premiere abwegig, und es wäre bedauerlich, wenn der Abend aus rechtlichen Gründen verändert oder gar aus dem Spielplan gestrichen werden müsste.
Amanullah Amanullah
nach Franz Arnold/Ernst Bach, Antonin Artaud und Heinrich Zille
Regie: Frank Castorf, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Adriana Braga, Dramaturgie: Maurici Farré. Mit: Rosalind Baffoe, Georg Friedrich, Franziska Hayner, Marc Hosemann, Anne Ratte-Polle, Jorres Risse, Sir Henry, Volker Spengler, Axel Wandtke.
www.volksbuehne-berlin.de
Mehr über die Arbeit Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne erfahren Sie etwa in den Kritiken zu Kean, der im November 2008 entstand, seiner Inszenierung Hunde vom September 2008 und in der zu Die Maßnahme/Mauser vom März 2008.
Kritikenrundschau
Kaum eine Schwankhandlung an der Volksbühne sei je derart gradlinig und maximal verständlich abgeschnurrt, schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (11.4.2009). Anders als in seinem Neunziger-Jahre-Hit 'Schöller/Die Schlacht' oder in 'Kean' vor wenigen Monaten, "wo die Konfrontation härtesten Boulevards mit Hochkulturgut illustre Diskursfetzen fliegen ließ" oder zumindest Reibungsmomente erzeugt habe, verläppern aus Wahls Sicht diesmal die Samplings recht unspektakulär. Weder Artauds 1933 an der Sorbonne gehaltener Vortrag 'Das Theater und die Pest', den Volksbühnen-Neuzugang Anne Ratte-Polle passagenweise mit Schaum vorm Mund herausschreie, noch die Einsprengsel aus Heinrich Zilles 'Hurengesprächen' schaffen für die Kritikerin "einen zwingenden Mehrwert". Gemessen an seinen früheren Arbeiten slapsticke sich Castorfs 'Amanullah Amanullah' eher nach dem Vorbild einer Kudamm-Komödie durch den Abend.
"Was bloß wollte Frank Castorf mit seinem drei Stunden lang pausenlos hechelnden Ostergewaltmarsch", fragt in der Welt (11.4.2009) erschöpft Reinhard Wengierek und spielt verschiedene Antwortmöglichkeiten durch. "Tortur zwecks höheren Erkenntnisgewinns? Oder als kreischender Quatsch, als lustvolle Verarschung mit Sir Henry am Klavier und viel Altberliner Stimmungsmusik". Insgesamt kommt ihm die Veranstaltung wie "eine geradezu hysterische Stückvernichtung und absolute Formauflösung", die aus Sicht von Wengierek nichts anderes demonstriert, als "einen perfekt paranoiden Daseins- und chaotischen Weltzustand". Doch dafür hätte ihm eine hübsche halbe Stunde vollauf genügt. Im Übrigen moniert er Verschnipselung, Vermanschung und Übertextung des Stoffes "mit einem unendlich quellenden Themenbrei: Börsenspekulation, Arbeitslosigkeit, Liebelei, Eifersucht, Sexualbetrieb, Islamismus, Hakenkreuz, Betrügereien, Zille-Milljöh, Revolution, Diktatur, Dichterbeschimpfung, Regietheaterlob und Terrorbomber". Am Ende holt der Kritiker zu einem zweiten Sinnfindungsversuch aus: "Der rasende Prater-Jux und seine unter- oder überirdisch blödelnden Dollereien sind ein akuter Fall von Verarschung! Oder Nihilismus. Oder aber womöglich Aufklärung? Wenn auch zynische, so doch emanzipatorisch-schlitzohrige Erziehung zur Gegenwehr? Gegen Artaud und Castorf, gegen die Pest und Gewalt. Gegen dieses Nonsens- und Ballermann-Theater und dicke Ostereier anderswo."
Als "Marathon des Kindischen ohne Interesse an einer Botschaft", fertigt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.4.2009) den jüngsten Castorf-Abend ab. Über drei Stunden addiere Castorf "in der Überreizung von Stilmitteln des Boulevardtheaters, dabei aber in erstaunlich narrativer Logik, explosive Auftritte, die beim Publikum – bei entsprechender Begeisterungsfähigkeit – zwar Lach-, aber definitiv keine Denkmuskeln strapazieren. Die uralte Mechanik der Albernheiten, mit der Castorf einmal dem Pathos eines Stadttheaters ätzend auf den Leib gerückt war, dreht hier hyperventilierend und mit ausgeleierten Sehnen seine Runden." Obwohl alle Mitwirkenden "wirklich aufopferungsvoll" um ihr Leben spielen würden, hat die ganze Inszenierung Briegleb zufolge nur einen Ton – und in dieser formalen Gestimmtheit sei der Abend daher "der störungsfreien Gag-Maschine des klassischen Boulevards" tatsächlich sehr viel näher als "dem komplexen Theater der aggressiven Interventionen", das Castorf mal erfunden habe, aber leider längst "ins Fahrige und Selbstgefällige" geführt habe.
Unverhohlenes Zuschauerglück zeigt dagegen Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (11.4.2009), für den es eine Freude ist, wie der Stoff "von den unter Strom stehenden Spielern" vergaukelt wird. Und zwar angeführt von "dem unvergleichlich komischen Marc Hosemann, dieser schnellen, großspurigen, sehr sympathischen Berliner Dreckfresse, die nötigenfalls auch mal in den Heinz-Rühmann-Ton fällt". Ebenso großartig findet Seidler die "wache und spielwütige Anne Ratte-Polle", nicht mehr wegdenkbar Sir Henry am Klavier. Lob regnet auch auf Axel Wandtke "mit seiner gekünstelten Steifheit" und Volker Spengler "mit seiner naturgemäßen Schwere" nieder.
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nein, mal im ernst: irgendwie liest sich das wirklich etwas merkwürdig, dürfte wohl einfach an der näheren ausführung liegen. aber passt schon.
Das Stück ist übrigens im Jahr 1928 angesiedelt, als es noch keine Weltwirtschaftkrise und Massenarbeistlosigkeit gab. In dieser grandiosen Komödie wäre es unsinnig gewesen, auf die Theorien von Keynes einzugehen und dass ein Staat sich antizyklisch verhalten muss, also versucht, eine Deflation mit den Mitteln der Inflation und einem Arbeitsbeschaffungsprogramm zu bekämpfen. Das nur nebenbei. Warum sollte ein Theater immer so kopflastig sein?
Ich bin da der Meinung von Henriette, Theater muss nicht kopflastig sein, und das richtet sich ja eigentlich sowieso danach, wer's sich anguckt.
Gerade Castorfs Stücke lassen ja, soweit ich sie kenne (und ich kenne nur vier), dem Zuschauer die Freiheit, das ganze eben so intensiv oder nachdenklich aufzusaugen, wie man eben möchte.
Da eignet sich doch seine jüngste Inszenierung hervorragend, sie entweder als puren Ulk, in dem mit Axel Wandtke nicht gut cherry eating ist, zu genießen (mit überragender Schauspielleistung, muss ich da anmerken) oder aber, wie Johnny Cash, sich bestimmte Schlagwörter oder -phrasen zu Herzen zu nehmen und mit sich selbst (oder anderen Lesern der Nachtkritik) politischen Diskurs zu betreiben. Ich finde im übrigen nicht, dass Theater oder sonst eine Kunstform obligiert ist, sowas zu tun, aber wenn es als Bonus mit im Paket kommt, freu ich mich drüber.
Ich habe Amanullah Amanullah jedenfalls ulkigst genossen und mich an Castorfs Ideen (vor allem der mit den Teppichen), den Schauspielern (vor allem Anne Ratte-Polle) und sogar den Monologen, die nicht mehr so quälend lang und anstregend waren wie in Kean, erfreut.
Ich habe „Strafe und Verbrechen“ zweimal gelesen und auch die Castorf-Inszenierung mit der alten Crew Wuttke, Minichmayr, Rieger usw. gesehen. Letztlich geht es bei der Figur Raskolnikow um die Sühne, nicht um weiteres Blut. Bleiben wir doch besser beim Kunstblut, statt dem von der zerrissenen Existenz Artaud thematisierten realen Blut. Das Statement von Heiner Müller ist wahrscheinlich flüchtig dahergesprochen worden.
In Amanalluh, einer wirklich ulkigen und zugleich versteckt tiefsinnigen Komödie, gibt es natürlich auch für Johnny etwas zum Anwerfen seiner Gehirnmaschinerie.
@ Henriette Schwungfuß-Broll: Ob Fjodor oder Fedor, von Russisch-Kennern habe ich mir sagen lassen, dass beides geht. Und ob es bei "Verbrechen und Strafe" tatsächlich um die Sühne geht, das bleibt fraglich. Jedenfalls nicht im Sinne des katholischen Beichtstuhls. Vielmehr geht es nach Müller um "die Gnade: die Liebe einer Prostituierten (Sonja)." Etwas später im Text heisst es dazu weiter: "Die Gnade ist eine Behauptung, die vielleicht nie einlösbar ist." Wesentlich bei Dostoevskij ist meines Erachtens letztlich die Dialogizität. Dieses Prinzip der Mehrstimmigkeit spricht sich gegen eine absolute Sinnhaftigkeit aus, mithin gegen jegliche Art von Dogmen und Ideologien. In dieser Skepsis gegenüber einem alles unterordnenden Machtdiskurs kommt Dostojewskis nach Müller Shakespeare gleich: "Denn auch Shakespeare hat nicht Ordnungen geschaffen, sondern gegen Ordnungen ein Chaos gesetzt, mit dem sich die Ordnung seitdem auseinandersetzen muss."
Wie das dann im Endeffekt von statten geht, ist ja jedermanns Sache, ob man das ulkigst obligiert macht oder mit Dostojewski-Kenntnissen.
Ich meinte auch nur, dass ich Castorf meines Erachtens schon verstehe, auch wenn ich keines der Werke, welche er verarbeitet, gelesen habe oder sonst irgendwie kenne. Es geht ja eben darum, was Castorf im Endeffekt mit seinem Stück sagt, ungeachtet dessen, ob das nun genau das ist, was Dostojewski oder sonst irgendjemand gemeint oder gesagt hat.
Natürlich kann man dann mit etwaigen Anspielungen nichts anfangen, aber im Gegenzug haben dann diese Anspielungen ganz absolut und alleine dastehend eine ganz andere vielleicht auch so beabsichtigte (was ja eigentlich auch irrelevant ist) Wirkung.
Es hat auch seine positiven Seiten, die Vorlagen nicht zu kennen, eben weil man dann nicht in die Versuchung kommt, alles zu vergleichen.
Genauso wie ich auch nicht in die Versuchung komme, alles mit seinen früheren Werken zu vergleichen (und die heutigen deshalb als lasch zu empfinden), weil ich die früheren Werke (leider) gar nicht kenne.
Und gerade bei Castorf bietet ja viel mehr als bloße Textvorträge von Schauspielern.
Bleiben wir bei Amanullah. Normalerweise versuche ich im Theater, das Lachen zu unterdrücken und quasi innerlich zu lachen. Aber bei diesem Stück war ich unfähig, bei gewissen Passagen der Afghanistan-Fraktion meine Amüsiertheit niederzuhalten.
Der von Jorres Risse war nicht ganz so witzig, dafür hat er das durch seine ausgezeichnete Körpersprache (Beispiel Stuhlorgasmus) wieder ausgeglichen.
Ich glaube übrigens, dass Fjodor einfach eine eingedeutschte Schreibweise ist und Fedor vielleicht eher der russischen Schreibweise entspricht, insofern es denn da Übereinstimmungen gibt. Meines Wissens gibt es im Kyrillischen einfach sehr viele Buchstaben weshalb das immer sehr schön verwurschtelt wird.
Ich habe die Schreibweise, die Johnny Cash neulich eingeführt hat (Fëdor Michajlovič Dostoevskij) schon mal gesehen.
Und der Stuhlorgasmus war ja nicht einfach so witzig, sondern im Kontext des Stückes (und heißt, und das wissen Sie ja auch, deshalb so, weil die Herren auf Stühlen saßen, nicht auf Stuhl). Da gleich von einem Fetisch zu sprechen, also ich weiß nicht.
Die Ware Theater ist natürlich Unterhaltung, das ist ja klar, wenn ich ausschließlich was zum Nachdenken haben will, brauche ich keine Kunst.
Auch wenn dem so wäre, wenn ich dafür bezahlen würde, zu sehen, wie Leute durch Fäkalien sexuell erregt werden, warum nicht. Die Leute, die Theater machen müssen ja auch von was leben und warum der jeweilige Zuschauer jetzt ins Theater gegangen ist, kann denen ja egal sein (sofern er das nicht gemacht hat, um mit Bowlingkugeln auf die Darsteller zu werfen oder sowas.)
Man könnte auch sagen, dass ich ins Theater gehe um meinen Unterhaltungs-, Spaß- oder Kunstfetisch zu befriedigen.
Wie Sie, Herr Cash nun von Fäkalhumor auf Schiitenehegesetze kommen, war für mich nicht ganz nachvollziehbar, aber lustig ist das nicht, nein.
Ich fände es übrigens auch nich lustig, im Theater tatsächlich mit Exkrementen beworfen zu werden.
@ puppetofmasters: Jetzt kommen Sie wieder mit Ihren Blickschranken. Schon klar, auf der einen Seite sehen wir Männer auf Stühlen, die spielen, dass sie einen Orgasmus haben. Auf der anderen Seite sehen wir durch sie hindurch, weil wir der Bildhaftigkeit dieser Szene gewahr werden: Stuhl-Orgasmus. Theater eröffnet den Zugang zu Unterhaltung UND Erkenntnis, das ist ja gerade das Schöne. Alles andere ist the age of television/internet.
Zur Stuhlszene:
Warum pauschalisieren Sie so viel?
Nicht "wir" sehen, Sie sehen doch. Woher wollen Sie wissen, wer der Bildhaftigkeit der Szene gewahr wird, wer welches Bild sieht und welches Bild überhaupt gemeint ist (letzteres ist meines Erachtens für den Rezipienten/Bild-Erzeuger irrelevant).
Wenn Sie darin eine Sexorgie mit Fäkalien sehen oder einen Salzstreuer, der gemütlich eine Zigarre raucht, dann finde ich das toll und lasse das Ihre Sache sein. Aber eben Ihre.
Wenn Sie in dieser Szene nun einen Scheiß-Orgasmus erkannt haben, bitte. Ich habe das jedenfalls nicht. Vielleicht haben Sie damit erkannt, was Castorf sagen wollte, oder auch ich. Vielleicht auch wir beide, vielleicht wollte er ja sagen, dass die, die einen Stuhl-Orgasmus sehen wollen, einen solchen sehen, die anderen bloß einen Stuhl-Orgasmus.
Theater eröffnet den Zugang zu Unterhaltung und Erkenntnis genau so wie jedes andere künstlerische Medium (wenn wir schon so pauschal darüber reden), da die Erkenntnis ja nicht allein durch das Theater kommt, sondern vor allem durch den Zuschauer, und den gibt es ja auch anderswo.
Wer weiß, vielleicht erlangen andere ja auch Erkenntnis bei Gute Zeiten, Schlechte Zeiten oder beim Schauen von Pornofilmen und nicht bei Castorf.
Wenn Sie eine Verbindung zwischen Serien und sich permanent weiterdrehende Konsumspiralen herstellen, möchte ich Ihnen nicht dazwischenfunken, was die meisten Serien angeht, jedenfalls.
Ich denke doch aber, dass die Medien Kino oder Fernsehen im Gegensatz zum Theater einfach mehr ausgeschöpft werden, weshalb sie sich wahrscheinlich auch für die Kommerzialisierung besser eignen, mag man das jetzt gut finden oder nicht.
Insofern hat sich das Theater womöglich selbst beschützt, indem es sich einfach nicht großartig weiterentwickelt hat, so sehe ich das jedenfalls.
Ich bin nun überhaupt kein Theater-Kenner, aber die Stücke, an die ich mich erinnere, fand ich alles andere als berührend, kreativ oder einfallsreich. Da hätte ich mir auch einfach das Drama durchlesen können. Damit will ich nicht sagen, Castorf-Theater würde sich besonders gut kommerzialisieren lassen, aber ich mag es eben deshalb, weil es Theater ist, welches das Prinzip Theater - Menschen auf Bühne vor Publikum - ausschöpft und nicht einfach Leute hinstellt, die einen Text vortragen (um es mal ein wenig zu übertreiben).
Es gibt ja auch Serien oder Filme, die das Potenzial haben, ähnliches wie Castorf-Theater zu leisten. Ich sage bewusst ähnliches, da das Fernsehmedium in gewissen Aspekten weniger zu leisten vermag als das Theater. Dies gilt natürlich auch umgekehrt.
Eine Serie ist ja nicht ausschließlich ein Format, das zu Profitzwecken gebraucht wird, sondern, um Dinge zu vermitteln, die in beispielsweise einen Film einfach nicht hineinpassen, sei es wegen dramaturgischer Struktur, der Länge des Plots oder Dingen, die sich mir im Moment gar nicht erschließen.
Ich will damit sagen, ich persönlich würde es begrüßen, wenn sich das Theater so weiterentwickelt hätte, wie es beispielsweise das Medium Film getan hat. Damit würde sicher auch Kommerzialisierung einhergehen, weil sich Film ja auch dahin entwickelt hat, für eine möglichst breite Masse zugänglich zu sein. Dennoch gibt es ja nicht nur diese eine Richtung, sondern eben beliebig verschiedene. Castorf hat ja nicht den ultimativen Weg gefunden, Theater zu betreiben, er hat nur einen Weg gefunden, der Leuten, wie zB auch mir, gefällt, und, soweit ich das beurteilen kann, deutlich mehr zu bieten, mehr Wirkungsebenen hat als "herkömmliches" Theater.
Zu guter Letzt würde mich dann aber doch interessieren, warum und inwiefern denn das Prinzip der Wieder-Holung der Konsumspirale der Serien gegenübersteht.
Zu Ihrer Frage der Wieder-Holung. Gegenüber der Ausstellung einer ständigen Präsenz in Fernsehen und Internet kann das Theater einen Tigersprung in die Vergangenheit wagen und damit den aktuellen Kontext durch die Konfrontation mit dem Abwesenden sprengen. Ganz platt ausgedrückt: Wenn Ihre Eltern nicht gewesen wären, wären auch Sie nicht auf der Welt. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Die Möglichkeit dazu eröffnet Ihnen der Theaterraum. Dort regiert nicht die permanente und schnelle Bildabfolge von TV und Internet, sondern die Herstellung von Bildern durch Bewegung im Raum. LANGSAM, nach Blumfeld: "Langsam/ laß noch Platz und Zeit/Für etwas, das langsam bleibt/Ohne, daß es mich vertreibt./Es lebt/Und leibt/Langsam/Halt den Wagen an/Langsam/Auf der Autobahn/Und dann [...]." - der Song endet privat. Und das ist auch gut so, angsichts der permanenten Öffentlichkeit von Big Brother und Reality TV.
Wenn schon Adornos und Horkheimers Kritik an der Kulturindustrie, dann bitte nicht wahllos in einen Zusammenhang mit einem Theaterstück stellen. Es ist sicherlich als positiv zu bewerten, dass er lieber Adorno als Big Brother goutiert, aber er muss seine Erkenntnisse hier nicht unbedingt loswerden. Jeder Intellektuelle der 70er und 80er Jahre hat dieses Zeug gelesen. Aus Gründen der Zerstreuung und Erfrischung haben ich die meisten Castorf-Inszenierungen der letzten fünf Jahre gesehen.
Und was "Kean" angeht, mir ist nicht entgangen, dass es da um einen Schauspieler geht, der am Ende an seinem eigenen Erfolg zugrunde geht, der zwar im Luxus angekommen ist, sich selbst dabei aber verloren hat. Sein Leben wird bestimmt von schalem Champagner und billigem Sex, am Ende steht der Wahnsinn. Und richtig, die möglichen Parallelen zu Castorf hab ich selbsttätig in meinem eigenen Kopf hergestellt. Denk-Mal! Es ist meines Erachtens nicht von der Hand zu weisen, dass man sich als sogenannter "etablierter Künstler" sowohl persönlich als auch künstlerisch weiterentwickeln muss. Denn es wäre ganz einfach unglaubwürdig, wenn jemand, der "oben angekommen" ist, immer noch ungebrochen nach der proletarischen Revolution schreien würde. Das muss dann schon differenzierter und (selbst-)reflektierter vonstatten gehen, was nicht nur im Fall von Castorf zu beobachten ist.
Herr Cash, sie werfen hier mit Zitaten und Halbweisheiten um sich. Ich kann mit vielen davon nichts anfangen. Erklären Sie sich doch gleich! Was soll denn das heißen, "Theater [kann] einen Tigersprung in die Vergangenheit wagen und damit den aktuellen Kontext durch die Konfrontation mit dem Abwesenden sprengen". Warum kann es das, inwiefern macht es das und warum bitte sollte das nur das Theater können?
Wo ich gerade bei Warum-Fragen bin: Warum muss Theater Bezug auf den Fernseh-Kontext nehmen?
In meinen Augen genausowenig wie das Gernsehen Bezug auf einen Theater-Kontext nehmen muss.
Mir scheint das Theater (nicht die Idee, sondern die Art, wie es praktiziert wird) von ihnen ein wenig überschätzt. Wir haben es hier doch mit Kunst zu tun.
Wenn diese Kunst politisch sein möchte, bitteschön.
Aber Erkenntnisse erlange ich doch, indem ich mich selbst weiterbilde, Fernsehen, Zeitung, Internet, etc.
P.S.: Ich habe auch keine Skrupel, wieder direkt auf das Stück einzugehen, aber gerade ist der Diskussionsbedarf diesbezüglich nicht sonderlich hoch.
Ich erklär es Ihnen gern. Walter Benjamin spricht in seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" vom "Tigersprung ins Vergangene". Diese poetische Formulierung ist eine Metapher, welche sich gegen die Vorstellung eines linearen und zielgerichteten Geschichtskontinuums wendet. Benjamin betont dagegen die Konstruiertheit von Geschichte, welche meist von der Position der "Herrschenden und Mächtigen" aus berichtet/beschrieben und auch im öffentlichen Diskurs so wahrgenommen wird. Geschichte wird aber eben nicht nur "von oben" gemacht. Man könnte diesen Machtdiskurs nämlich auch umdrehen, indem man sich die Geschichte selbsttätig aneignet, die Parallelen zur Jetztzeit sucht und für die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft nutzbar macht.
Gegen die Vorstellung einer permanenten Fortschrittsgeschichte, in welcher sich das Leben der Subjekte stetig verbessern würde (zum Beispiel durch die zunehmende Technisierung des Alltagslebens) steht bei Benjamin ein Geschichtsbewusstsein, welches eben nicht nur nach vorn in die vermeintlich blühenden Landschaften schaut, sondern auch den Blick zurück wagt. Ein Beispiel dafür: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trieb die beginnende Industrialisierung die Menschen vom Land in die Städte. Dadurch wurden ländliche Gemeinschaften/Kollektive zunehmend aufgelöst, es gab einen ersten Individualisierungsschub, welcher sich in weiteren Schüben bis ins aktuelle Internetzeitalter fortsetzt. Nun unterstützt das Internet einerseits die globale Vernetzung, andererseits könnte es aber ebenso gut zur Entsolidarisierung beitragen, insofern die Subjekte sich statt im öffentlichen nur noch im virtuellen Raum aufhalten. Bild: Vereinzelte Subjekte hängen an Maschinen.
Schneidet man sich von der Geschichte ab, schneidet man sich zugleich von sich selbst ab. Das Theater kann den Geschichtsraum offenhalten, indem es sich zum Beispiel antike und/oder klassische Stoffe auf der Folie der Gegenwart neu lesbar macht. Und damit vielleicht auch eine neue Sicht auf die Gegenwart erhält. In Film und Fernsehen gibt es diese sondenartige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart dagegen kaum (noch). Abgesehen von vereinzelten Dokumentationen beherrschen doch ehrlicherweise der Historien- bzw. Kostümschinken den Markt. Hier wird Geschichte als abgeschlossen historisiert und wie alte Kleider eingemottet. Man könnte die Rokokokostüme aber auch wieder aus dem Schrank holen und überlegen, ob und was die eigentlich (immer noch) mit unserer Zeit zu tun haben. Verweisen sie womöglich auf das Politik-Theater des schönen rhetorischen Scheins? Anders gefragt: Führt sich manch aktueller Politiker hochroten Kopfes heute nicht möglicherweise auf wie als gehöre er zum neuen alten Adel?
Zu Ihrer Frage, warum das Theater sich auf den (Fernseh-)Kontext beziehen sollte: Meines Erachtens kann man das Theater nicht als isoliert betrachten. Es existiert nun mal nicht im luftleeren Vakuum, sondern ist Teil eines politischen und sozioökonomischen Kontexts. Und dazu muss sich das Theater verhalten.
Zuletzt also nochmal zum Tigersprung: Hulla di Bulla / Amanullah Amanullah ist kein zeitgenössisches Stück, sondern ein Schwank aus den 20er Jahren. Wenn dieser historische Kontext rein gar nichts mit dem aktuellen Kontext zu tun hätte, hätte Castorf sich das Ganze meines Erachtens gespart.
Schließlich, ich bilde mir meine Meinung lieber über das Theater als über Fernsehen, Zeitung und Internet. Denn beim Theater kann ich mir wenigstens sicher sein, dass es sich dabei tatsächlich um Kunst handelt und nicht um (die Illusion von) Realität und "Wahrheit".
Damit gehört auch Benjamin für mich keineswegs in die Schublade "verstaubter Seminarstoff"; im Gegenteil, hier lässt sich mit Leichtigkeit eine sexy Spur zum Diskurs Agambens verfolgen. Dessen Begriffe des "Lagers" und des "nackten Lebens" zum Beispiel werden zunächst mit dem Souveränitätskonzept nach Carl Schmitt verbunden, um dann von den KZs im Zweiten Weltkrieg einen Bogen zu den heutigen Lagern (Flüchtlingslager, Guantanamo usw.) zu schlagen.
Auf andere Weise könnte man den politischen Diskurs der heutigen Linken - ähnlich wie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts - mit der Metapher des "Lagerdenkens" beschreiben. Gegenüber der - widerspruchsreichen - einheitlichen Ideologie eines "kommunistischen Kontrollchors" ist vor dem ersten Weltkrieg ebenso wie heute vielmehr eine Aufsplitterung verschiedenster linker Gruppierungen zu beobachten, deren Mitglieder einander wechselseitig ausschließen. Angesichts dessen mag manch orientierungsloses Subjekt sich die klare Hierarchie einer Monarchie zurückwünschen. Der König ist tot - es lebe der König.
Im übrigen scheinen Sie mir da ziemlich halbgedachtes Zeug vom Stapel zu lassen. Was ist denn z.B. der Brecht'sche "kommunistische Kontrollchor" bitteschön, von dessen Ideologie Sie daherschwafeln? Nur weil man ein bisschen hippe Theorie gehört hat und auf ein paar Zitate zurückgreifen kann, heißt das noch nicht, dass man zu denken gelernt hat.
Klaro?
Versuchen Sie es doch in einem anderen Forum oder verlegen Sie sich auf die Erotik. Vielleicht sind Sie darin stärker.
@ Hansi Bargeld: Die von Ihnen beanstandeten Berufe des "Tiefseetauchers" sowie des "Archäologen" bezeichneten in meinem Fall natürlich - ganz im Sinne Benjamins (Stichwort: Dürers Melancolia I) - Allegorien. "Missionar" dagegen trifft es meines Erachtens nicht. Ich halte mich vielmehr an Rosa Luxemburg: "Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden."
Übrigens, Ihre Forderung der Demut gegenüber Foucault, Benjamin und Agamben veranschaulicht ganz wunderbar die Funktion des Kontrollchors in der "Maßnahme". Dieser fordert in belehrendem Gestus die Einhaltung der reinen "Lehre der Klassiker", des "Abc des Kommunismus". Der Junge Genosse dagegen tritt aus dem "Wir" dieses Kollektivs heraus: "Darum trete ich vor sie hin / Als der, der ich bin, und sage, was ist." Er wagt es, "Ich" zu sagen, er erprobt seine eigene Stimme, er kämpft um seine individuelle Existenz, um seinen Körper, um sein "nacktes Leben" nach Agamben: "Dann sind die Klassiker Dreck, und ich zerreiße sie; denn der Mensch, der lebendige, brüllt, und sein Elend zerreißt alle Dämme der Lehre." In diesem Sinne möchte ich Adornos Diktum ironisch verkehren: Manche Menschen empfinden es bereits als Beleidigung, wenn sie "Ich" sagen. Die entscheidende Frage der "Maßnahme" ist meines Erachtens demnach schließlich: "Was ist eigentlich ein Mensch?"
Müller dagegen ist über den Brechtschen Missionierungsgeist zu Zeiten der "Maßnahme" (1930) bereits hinaus. "Mauser" wurde 1970 als Text veröffentlicht. Müller hat "Die Maßnahme" also vor dem Hintergrund der Schattenseiten des Realsozialismus in der DDR sowie der Schrecken des Stalinismus neu bearbeitet. Infolgedessen formuliert Müller die "Gewaltfrage" anders als Brecht bzw. neu; beinahe schon nicht mehr als offene Frage, sondern bereits als neue Setzung (man beachte den Punkt am Ende der folgenden als Frage formulierten Sätze): "Wird das Töten aufhören, wenn die Revolution / gesiegt hat. / Wird die Revolution siegen. Wie lange noch."
Hier könnte man nun auch den Artaud-Kontext aus "Amanullah" anschließen. Erst NACH dem Blutrausch kommt - möglicherweise! - die Erkenntnis. Bei Müller kommt der Feind der Revolution demnach auch nicht von aussen, in der Figur eines einzelnen Abweichlers (des Jungen Genossen), sondern gleichsam "von innen". In Bezug auf den Pestbazillus, welcher den Körper von innen heraus zerstört und sich darüberhinaus zersetzend auf eine politische Gemeinschaft auswirkt, setzt Müller die Trennung zwischen Körper und Geist als den eigentlichen Feind der Revolution. Auf der einen Seite steht das Töten aus einem körperlichen und unkontrollierbaren Impuls heraus; auf der anderen Seite das Töten als "Wissenschaft": "Aber das Wissen genügt nicht, sondern die Unwissenheit / Muß aufhören ganz, und nicht genügt das Töten / Sondern das Töten ist eine Wissenschaft / Und muß gelernt werden, damit es aufhört". Müllers "Mauser" demonstriert demnach die praktischen und politischen Konsequenzen der Trennung von Körper und Geist.
Um schließlich noch einmal auf den Schrei zurückzukommen. Dieser ist eben nicht mit dem Pathos des Guten, Wahren und Schönen gesättigt, sondern es ist vielmehr ein Schrei der Verzweiflung darüber, dass das Gute ein Teil des Bösen ist, welches in jedem Subjekt steckt: "Wir hörten sein Brüllen und sahen was er getan hatte / Nicht mit unserm Auftrag, und er hörte nicht auf zu / schrein / Mit der Stimme des Menschen der den Menschen frißt."
Mich würde doch aber interessieren, ob hier jemand irgendwas zu den juristischen Problemen weiß, die es anscheinend gerade mit Amanullah Amanullah gibt.