Die Welt ist ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel

von Kerstin Edinger

Köln, 9. April 2009. Es hätte auch ein schwerer, ein mit Gedankenkonstrukten überfrachteter Abend werden können. Nach der Lektüre von Juli Zehs Stückvorlage, in der Bearbeitung von Bernhard Studlar, sehnt man sich nach etwas Menschelndem, etwas weniger Konstruktion, dafür mehr Lebensnähe. Doch Regisseurin Jette Steckel gelingt die Gratwanderung, aus exemplarischen Figuren Menschen aus Fleisch und Blut zu machen, der etwas spröden Vorlage Leben einzuhauchen. Sie wechselt gekonnt die Ebenen zwischen Abstraktion und realer Handlung, ohne dabei an Tempo zu verlieren.

Papier, Theorie, Moral beiseite räumen

Dutzende von weißen Blättern liegen anfangs fein säuberlich aneinandergereiht auf dem kahlen Bühnenboden. Die Darsteller kehren die Blätter beiseite und räumen sich die quadratische Spielfläche frei. Sie tragen Kleidung in den klaren Grundfarben Grün, Blau, Rot, Gelb, die Farben von Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figuren. Steckel und ihr Team wollen uns zeigen: alles ist nur ein Spiel, ein Lebensspiel – auch dieser Theaterabend.

Eine Deckenkamera liefert dem Zuschauer die Aufsicht des Geschehens, projiziert auf eine große Leinwand im Hintergrund der Bühne. Dieser fast göttliche Draufblick findet parallel zum Spielgeschehen statt. Wir, die Zuschauer sind die Beobachter, ja vielleicht sogar die Juroren. Mit dem Bild dieses Spielbretts und den Akteuren als dessen Figuren kommt Jette Steckel schon zu Beginn zum wesentlichen Punkt der Inszenierung: der Suche nach Freiheit und Sinn in einem selbst konstruierten Spiel.

Die hochintelligente 14-Jährige Schülerin Ada (jugendlich kraftvoll gespielt von Anna Blomeier) hat beschlossen, alles in ihrem Leben als "gleich gültig" anzusehen. Wenn man wie sie die menschliche Existenz als Aneinanderreihung von unsinnigen Aktionen versteht, bleibt nur der Nihilismus. Mit ihrem Geschichtslehrer Höfling und dem polnischen Deutsch- und Sportlehrer Smutek liefert sie sich im Unterricht regelrechte Gedankenschlachten. Keiner scheint ihr gewachsen zu sein. Auch bei ihrer frustrierten Mutter (herrlich variantenreich: Susanne Barth) findet sie keinen Halt.

Nichts als ein vortreffliches Spiel

Da kommt Alev in ihre Klasse: Halbägypter und Viertelfranzose, genauso heimat- und orientierungslos wie sie, hochintelligent, aber impotent. Carlo Ljubek spielt ihn mit großer Präsenz als Möchtegern-Diavolo. "Alles, was die Menschen ihre Entscheidungen nennen, ist nichts weiter als ein gut einstudiertes Spiel." Alev bringt Adas Sinnsuche auf den Punkt – nur in einem Spiel, dessen Regeln man selbst bestimmen kann, steckt wahre Freiheit.

Das Bühnenbild von Florian Lösche ermöglicht dem Stück, das Tempo, das die Regisseurin vorgibt, zu halten. Sechzehn Kästen (Sprungkästen wie man sie vom Turnunterricht in der Schule kennt) bilden das simple aber durchaus variantenreiche Bühnenmaterial, mit dem die Darsteller hantieren können. Mal liegen sie darauf, mal nutzen sie sie als Badewanne, mal dienen sie als Absperrung – eine einfache und praktikable Idee. Auch das Videomaterial, das mit den Live-Sequenzen der Deckenkamera verbunden wird, ist in seiner Abstraktion gut eingesetzt und verdichtet viele Szenen noch einmal.

Kurz vor der Pause ein Höhepunkt des Abends: Die Darsteller liegen auf ihren Kästen, starr geradeausblickend in die Deckenkamera. Ihre Stimmen kommen vom Band. Jeder erläutert seine Weltsicht, die Kamera zoomt an sie heran, auf der Leinwand meint man, in ihre Köpfe blicken zu können – klar und nüchtern, ohne viel Emotion erscheint dem Zuschauer dieser Moment, der doch so viel über die Personen erzählt. Jette Steckel hätte für diese Szene über die vielschichtigen Wertungsmöglichkeiten der Welt kein schöneres Bild finden können: aufeinander gesteckte Turnkästen, darauf platt liegend ein Mensch.

Verlorenheit entblößter Körper

Aus Langeweile heraus entwickeln Ada und Alev ein Spiel mit eigenen Regeln. Als Opfer suchen sie sich Smutek aus. Ada soll ihn verführen. Alev will die beiden beim Sex filmen. War der erste Teil nur Vorbereitung, wird es im zweiten Teil ernst. Die beiden Schüler erpressen ihren Lehrer mit dem gefilmten Material und zwingen ihn zum Sex mit Ada. Bald schon ist nicht mehr klar, wer die Fäden in der Hand hält. Ist es immer noch Alev, Smutek oder doch die eher passive Ada?

Naturalistische Sex-Szenen hätten an dieser Stelle eine zu große Präsenz gehabt, Jette Steckel gelingt es, durch Videobilder das Verlorensein der beiden entblößten Körper zu verdeutlichen und den Sex nicht auszustellen, sondern als Element im Spiel begreiflich zu machen. Der Abend gibt immer wieder neue Denkanstöße. Was ist richtig? Was ist falsch? Welche Werte zählen in einer Welt, die die Menschen orientierungslos zurücklässt?

Steckel jongliert gekonnt mit den beiden Ebenen der Vorlage. Einerseits konkreter Handlungsrahmen, andererseits Figuren, die immer wieder heraustreten und sich selbst als Handelnde beobachten. Jette Steckel und ihre Dramaturgin Sibylle Meier haben mit ihrer Textfassung alten Ballast abgeworfen und das Stück aufs Wesentliche verdichtet. Immer wieder bringt sie uns die Personen nah, um sich dann wieder kühl von ihnen zu entfernen.

Suche nach Freiheit

Nähe und Distanz finden in dieser Inszenierung gleichermaßen statt: einerseits pralles Leben, dargestellt durch nahe Kameraeinstellungen und emotionalisierend eingesetzte Musik, andererseits gewollte Künstlichkeit im sezierenden Neonlicht. Eine Inszenierung, die von dem Kontrast der Mittel lebt, derer sich Steckel sicher zu bedienen weiß. Am Ende bedecken die Darsteller den Boden wieder mit Blättern, überdecken dabei eine projizierte "Spielanleitung des Lebens". Das Spiel ist aus. Doch die Freiheit, die die Figuren darin zu finden hofften, war nur von kurzer Dauer. Ada bleibt allein auf einem der Kästen zurück. Glücklich und müde. "Wissen Sie was wir wollen? Unsere Ruhe. Ruhe von all Ihren kleinkrämerischen Reglementierungen." Ada, Alev und Smutek finden nicht den Sinn des Lebens in ihrem selbstkonstruierten Spiel. Aber sie waren nah dran.

 

Spieltrieb von Juli Zeh
Kölner Fassung von Jette Steckel und Sybille Meier unter Verwendung der Bearbeitung von Bernhard Studlar
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Bianca Tetzel. Video: Alexander Bunge. Mit: Anna Blomeier, Carlo Ljubek, Simon Ecker, Andreas Grötzinger, Michael Weber, Anja Herden, Susanne Barth.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr zu Regiearbeiten von Jette Steckel: Im September 2008 hat sie am Deutschen Theater Berlin Camus' Caligula inszeniert; Die Kaperer von Philipp Löhle März 2008 im Wiener Schauspielhaus; Fremdes Haus von Dea Loher im Februar 2008 in Köln; Gerettet von Edward Bond im November 2007 in Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Die Konstruktion des Abends sei etwas abenteuerlich und die Texte für eine dramatische Handlung zu gedankenschwer, schreibt Hans Willi-Herrmanns in der Kölnischen Rundschau (11.4.) Zudem wiederhole sich in den drei Stunden manches. Denn abgesehen von wenigen psychologisch motivierten Veränderungen der Protagonisten Ada, Alev und Smutek stehen die Figuren aus seiner Sicht meist nur für Ideen und Haltungen. Das sei für die Schauspieler insgesamt eine eher undankbare Angelegenheit, wobei Anna Blomeier als Ada den Ausdruck intelligent-abgestumpfter Leere ordentlich meistert und Carlo Ljubek als intellektueller Sadist Alev bei Willi-Herrmanns den stärksten Eindruck hinterlassen.

 

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