Große Fragen, banales Paar

von Andreas Klaeui

Zürich, 9. April 2009. "Bleiben ist nirgends" steht in Beton eingegossen an der Bühnenrückwand. Wo die Erzählungen sich ins ganz Große ausweiten, werden die Wahrheiten allgemein. Aber darunter tun sie es nun mal nicht, die Figuren in Reto Fingers neuem Drama. Ein Echtrasenteppich ist vor der Betonwand ausgebreitet, eine Spielwiese fürs Leben. Mit dem Kreidewagen zeichnet Hans darauf seiner Anna einen Wohnungsgrundriss, eine Behausung, eine Bleibe. Natürlich werden sie noch am zartbitteren Ende beide so unbehaust sein wie am Anfang. Bleiben ist nirgends.

Über rund 60 Jahre geht Reto Fingers Dramenerzählung "Vorstellungen und Instinkte". Von den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis in die 2020er, von der ersten gemeinsamen Wohnung bis in die Demenzstation, dazwischen liegen Hans und Annas Lebensfindungsversuche, in der Kommune (Tendenz Hans) oder in der Kleinfamilie (Anna), mit wechselnden Partnern und doch immer wieder aufeinander zurückgeworfen.

Das wechselhafte Varieté des Lebens

Was passiert mit den revolutionären oder nicht so revolutionären Lebensentwürfen, wenn sie alt werden? Reto Finger hat eine epische Lebensrevue geschrieben, eine Folge von Paarsituationen, die sich manchmal ganz alltäglich komisch zeigen, immer wieder aber auch großen Anlauf nehmen, weiten Atem holen und im banalen Paar die ganz tiefen Fragen anstoßen.

Sandra Strunz unterstützt dies in ihrer Uraufführungsinszenierung am Zürcher Schauspielhaus, und auch wieder nicht. Sie folgt der lebenslangen Liebestrennungsgeschichte mit einem Vergnügen, das sich auf die Zuschauer überträgt. Sie inszeniert ein wechselhaftes, starktoniges, musikalisches Varieté des Lebens und der Selbstfindungsbilder, und umgeht allzu viel Beziehungsschwerkraft mit plakativem Demonstrationswillen.

Unterm Rasen quellen die Schaumstoffmatratzen der Kommune hervor, da kotzen die Mitglieder nach Otto Muehls Reglement von 1974 in "Selbstdarstellungen" ihr Leiden an der Kleinfamilie raus – und sobald es zu drückend wird, führt ein sexy Song schnell weiter und fugenlos zum nächsten Bild. Und das Ensemble stürzt sich mit Wonne in die komischen und peinlichen Falten der jüngsten Zeitgeschichte; allen voran Oliver Masucci als ein Hans, der mit sich immer noch steigernder Intensität auf der Suche nach dem richtigen Leben aberwitzige Kreise zieht.

Der Song von der winzigen Welt

Und dann fällt die Betonmauer krachend ein, und über den Trümmern formiert sich in einer Schlüssel- und Angelszene des Stücks neues Paarleben aus der Sorge um den verschollenen Sohn. Das hat noch einmal eine ganz andere, neue Qualität, ein erstaunliches, durchaus ergreifendes Pathos. Aber muss am Ende dann tatsächlich auch echtes Gras darüber wachsen? Muss sich an das Ersterben in heiterem Lachen ein Lehrstücksong von der winzigen Welt und den unendlich großen Meeren anschließen: "Drum leg die Leinen los, Leben heißt leben lernen"?

Reto Fingers Stück neigt an sich zum Sentenzhaften; wo sie dies noch illustriert und kommentierend verdoppelt, tut Sandra Strunz ihm keinen Dienst. Wo die Wahrheiten derart allgemein werden, ist der Grat schmal. Sehr schmal.

 

Vorstellungen und Instinkte (UA)
von Reto Finger
Regie: Sandra Strunz, Bühne: Katrin Hofmann, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Jonas Landerschier.
Mit: Oliver Masucci, Johanna Bantzer, Marianne Hamre, André Meyer, Tomas Flachs Nóbrega, Jonas Landerschier.

www.schauspielhaus.ch

 

Reto Finger hat sich mit dem Stück Kaltes Land, für das er den Kleist-Förderpreis erhielt, einen Namen gemacht. Am Landestheater Tübingen führte Finger auch Regie: bei Carl-Henning Wijkmarks Der moderne Tod.

 

Kritikenrundschau

Als "schnell und leicht" beschreibt Peter Müller den Abend im Zürcher Tages Anzeiger (11.4.), der die Generation von 1968 über Jahrzehnte beobachte und mit milder Ironie beschreibe. Den Schauspielern sieht Müller "die Lust aus allen Poren" dringen. Aber irgendwann sei ausgelacht. Denn "der schlichte Bilderbogen" solle sich im Verlauf des Abends "zur Tragödie auswachsen". Der Sohn des Protagonistenpaars sei im unruhigen Algerien ums Leben gekommen. "Eine Explosion lässt die Bühnenwand effektvoll bersten, und im Trümmerstaub hält Vater Hans eine wütend-zerknirschte Trauerrede gen Himmel. Endlos dauert sie und überfordert Schauspieler und Dichter. Finger fehlt die Sprachkraft, Masucci bleckt nur das Colgate-Gebiss." Zum Schluß blühe der Kitsch aus den Ruinen.

 

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