Gegen das System helfen keine Verträge

von Ulrike Gondorf

Köln, 16. April 2009. Elfriede Jelinek mischt sich gern ein. Mit ihrer Wirtschaftskomödie "Die Kontrakte des Kaufmanns" ist ihr die Intervention in die Zukunft geglückt. Denn das Stück zur Finanz- und Wirtschaftskrise entstand vor ungefähr einem Jahr, als es noch gar keine Lehman-Pleite mit ihren globalen Dominoeffekten gegeben hatte. Sehr viel begrenztere Skandale in Österreich hatten der Autorin den Stoff und den Anlass gegeben zu dieser wütenden Tirade auf die Skrupellosigkeit der Banker und die naive Profitgier der Anleger.

Heute wirkt das alles so aktuell, dass sich die Theater in Köln und Hamburg entschlossen haben, die eigentlich geplante Koproduktion von "Rechnitz – Der Würgeengel" gegen die Uraufführung dieses jüngsten Jelinek-Stücks auszutauschen. Mit Schauspielern aus beiden Ensembles hat Nicolas Stemann das Stück inszeniert – oder vielleicht sollte man sagen, eine sehr kreative Auseinandersetzung mit dem Text angestoßen.

Reise mit ungewissem Ausgang

Der Abend hat einen ausgesprochen improvisatorischen Charakter. Vor Beginn der Aufführung erklärte Stemann dem Publikum, dass man sich darauf einstellen solle, eine "Textumsetzungsmaschine" bei der Arbeit zu beobachten. Wohin die Reise führe, wisse das Ensemble auch nicht genau, nur dass sie drei bis vier pausenlose Stunden dauern werde. Den daraufhin sich regenden Unmut brachte er mit dem Hinweis zur Ruhe, dass jeder nach Belieben Pause machen solle, die Saaltüren blieben geöffnet, um das problemlos zu ermöglichen.

© David Baltzer / bildbuehne.de
Ralf Harster und Patrycia Ziolkowska (auf dem Ballon) © David Baltzer / bildbuehne.de

Ein Teil dieser Ankündigung war gewiss darauf berechnet, eine offene, die Erwartungshaltung an ein Theaterereignis unterlaufende Stimmung herzustellen. Denn auch wenn über weite Strecken der Text gelesen wurde, hat Stemanns Inszenierung, in der er übrigens auch selbst mitspielt, singt und musiziert, bei aller spontanen Anmutung einen hohen Grad an ausgefeilter Kunstfertigkeit. Schon allein der Einsatz komplexer Ton- und Videotechnik setzt der tatsächlichen Improvisation enge Grenzen.

Stemann inszeniert hier bereits das fünfte Stück von Elfriede Jelinek, und er weiß, mit welchen Mitteln man die Endlos-Text ohne Rollen und Regieanweisungen, den die Autorin dem Theater überantwortet – mit der ausdrücklichen Aufforderung, auch selbst über die Abfolge dieses Materials zu entscheiden – szenisch strukturiert und rhythmisiert, wie man die Bildkraft und rhetorische Schärfe dieser Prosa für die Bühne rettet.

Geld bei der Arbeit zuschauen

Die privaten "Kleinanleger" und die "Greise", die für die Banker stehen, sind die beiden Parteien dieses Stücks. In der Schlussphase mobilisiert die Autorin noch die "Engel der Gerechtigkeit", um das Geschehen zu kommentieren. Was da in wortreichen Gesängen aufeinander trifft, ist das Lamento der Geprellten, die nichts davon wissen wollten, dass bei 15 Prozent Rendite nicht auch noch die absolute Sicherheit ihrer Anlage gewährleistet war, und der kalte Zynismus der Banker, die unverblümt aussprechen, dass das Kapital bei den Kleinanlegern sowieso in den falschen Händen war und nun endlich wieder für die richtige Seite "arbeitet".

Nach typisch Jelinek'scher Manier hat der Text seine Leitmotive und Redundanzen, ergeht sich in Endlosschleifen verstiegener Assoziationen, hinter denen die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellt durchscheint. Stark ist er vor allem, wo er grimmigen Humor entfaltet und wo die Sprache selbst den verlogenen Schein entlarvt. Wie viele Wörter gibt es doch, die auf ganz gemeine Weise zweideutig werden in diesem Zusammenhang: erlösen, ersparen, versprechen, abfinden, zählen … ganz zu schweigen von den Werten.

Maßlosigkeit der Finanzwelt, der Regie, der Autorin Jelinek

Im mittleren Drittel des fast vierstündigen Abends nimmt die Maßlosigkeit der Jelinek bisweilen quälende Züge an. So muss es wohl sein bei dieser Autorin, und Nicolas Stemann verschärft den folternden Stillstand noch durch ewig auf der Stelle tretende musikalische Nummern. Aber dann zieht der Abend noch einmal stark an: zu den variationsreich erdachten und vom Ensemble virtuos umgesetzten Sprechchören, die vom Flüstern zum Brüllen, vom ausgeklügelten Räderwerk schneller Wechselrede zu blockhafter Wucht wechseln, treten suggestive Bilder, vom Slapstick bis zum Oratorium reicht das Spektrum theatralischer Mittel.

Und die langen Reden über das Nichts, in das sich Kapital und Zinsen über Nacht verwandeln können, beschließt Elfriede Jelinek mit einer starken Geschichte: Sie handelt von einem Mann, der seine gesamte Familie auslöscht, um ihr die Schande des Bankrotts zu ersparen. "Die Opfer müssen gehen, das ist doch wohl klar, die Opfer zuerst, bitte nicht drängeln!" Nicolas Stemann und sein Regieteam sowie das ganze Ensemble, zu dem Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph gehören, wurden am Ende des langen Abends begeistert gefeiert.

 

Die Kontrakte des Kaufmanns (UA)
Eine Wirtschaftskomödie von Elfriede Jelinek
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Marisol del Castillo, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel. Mit: Therese Dürrenberger, Ralf Harster, Franziska Hartmann, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph, Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska.

www.schauspielkoeln.de


Mehr über die Verbindung von Elfriede Jelineks Texten und Nicolas Stemanns Regie lesen Sie etwa in der Kritik zur deutschen Erstaufführung von Über Tiere im Mai 2007 am Deutschen Theater Berlin. Oder in der zum Gastspiel der Hamburger Ulrike Maria Stuart beim Berliner Theatertreffen 2007. Die Urlesung von Die Kontrakte des Kaufmanns fand vor einem Monat unter Stemanns Anleitung in Wien statt.

 

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Kritikenrundschau

Als "freundliche Folter" beschreibt Matthias Heine in der Tageszeitung Die Welt (18.4.) Nicolas Stemanns neuen Jelinek-Abend. Allerdings liefert Heine hier einen saftigen Verriß. Bereits die Textvorlage geißelt er für ihre Kalauerseligkeit: "Es wimmelt von Sätzen im Stile von: 'Jawohl, wir Armen sind die einzigen Armen, die jetzt reich werden, wenn auch nicht durch unserer Arme Arbeit.' Uferlos und endlos mäandrieren die Witzflüsse, als sollte damit die Unübersichtlichkeit der internationalen Finanzströme karikiert werden. Diese gefühlten aberhunderttausend Scherze (...) wirken, als habe ein Reinigungskommando in sämtlichen Kabarettbühnen des deutschen Sprachraums gestrichene Gags zusammengekehrt – aus Programmen mit Namen wie 'Merkeleien unter Steinbrücken', 'Abfuckprämie für Totalverhartzte', 'Keine Rose ohne Mehdornen'". Im Grunde neige Elfriede Jelinek zu ähnlich inflationärem Verschleiß, wie die von ihr kritisierten Banker und Manager. Allerdings vernichte sie "nur Worte und nicht Werte. Wenn sie erst einmal alle möglichen Spiele mit einem Wort getrieben hat, ist dessen Bedeutungskonto total abgeräumt." Auch Stemanns Aufführung nervt ihn mit quasireligiösem Bedeutungsgehubere. Vieles klinge schön, sehe manchmal auch schön aus, und sei gut gespielt. "Aber es ändert doch nichts daran, dass man sich am Schluss von blendenden Scharlatanen abgezockt fühlt wie ein Anleger von Lehman Brothers."

Als "kabarettistischen Amoklauf" und "garstiges Requiem" hat Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (18.4.) diesen Abend empfunden, dessen Textmassen er manisch um einige Grundthemen kreisen in Stemanns Inszenierung meist recht "formlos, halb improvisiert" dahindümpeln sieht. Und doch fasziniert Keim, "wie der Regisseur seine erfolgreiche bisherige Beschäftigung mit Jelineks Texten" an diesem Abend in Frage stellt, "noch einmal ganz von vorne denkt, eine neue Form entwickelt, die den Zumutungen dieser Autorin gerecht wird". Das Stück sei inhaltlich dünn, es trage nicht über so einen langen Abend. Doch Elfriede Jelinek schreibe es dauernd weiter, schicke Stemann Texte, die spontan in den Abend einfließen würden, ohne dass die Schauspieler sie auf einer Probe gelesen hätten. Diese "extrem offene Form" sei spannend, "jede Aufführung wird anders sein". Und wer von den ständigen Wiederholungen genug habe, könne ja Pause machen, leitet der Kritiker eine Regieanweisung Stemanns an das Publikum weiter.

Clever zerlegt und inszeniert findet Marion Löhndorf von der Neuen Zürcher Zeitung (18.4.) Elfriede Jelineks manische Textblöcke in Nicolas Stemanns Uraufführung. Denn Stemann übertrumpfe ironisch das Blendwerk von Elfriede Jelineks Sprache mit einem höchst durchschaubaren Bühnenillusionismus. Das Kölner Schauspielhaus gebe sich zu diesem Zweck "ganz antiautoritär". Gleich zu Beginn erkläre der Regisseur, "die Türen zum Zuschauerraum blieben während der pausenlosen Vorstellung geöffnet, Hinaus- und Hineingehen während der Vorstellung wie auch Essen und Trinken seien durchaus gestattet. Die Aufführung sei keine fertige Inszenierung, sondern eine 'Textverarbeitungs- oder Umsetzungsmaschine', was aus Sicht der Kritikerin natürlich nur eine ironische Verve ist. Dem "vermeintlich improvisatorischen, leichthändigen Zugriff" entspricht für sie dann auch "Stemanns sanfte Aufhellung der dramatischen Grundnuance". Er entschärfe den Dauerton von Zynismus und Hohn im Stück manchmal bis an den Rand der Verharmlosung, folge aber Jelineks sardonischem Humor.


"Man muss das Theater lieben für Abende wie diesen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.4.). Weil es eine Heraus- und eine Denkforderung, eine Zumutung sei. "Wieder und wieder umkreisen Jelineks Tiraden, ihre kalauernden Jelinekiaden, das zentrale Motiv: Das Geld, unser Mammon, ist hin." In den dreieinhalb Stunden, welche "diese Zumutung" dauere, schenke Stemann einem nichts. "Hat der Regisseur in früheren Jelinek-Inszenierungen (...) die komplexen Textflächen der Autorin oft schwer behauen und ironisiert und ihre Unspielbarkeit in aller Verzweiflung vorgeführt und karikiert, ackert er sich diesmal mit seinen Schauspielern Satz für Satz durch, lässt in dieser Litanei der Wut genauso ihren Lauf wie der Komik, und auch eine große Trauer bricht sich. "Es ist, schreibt Dössel, "ein Oratorium, ein Sprachkonzert, ein Textmühlengebet – ein unaufhaltsamer, unerbittlicher Mahlstrom, der in seinen Endlosschleifen und Redundanzen alle Gewissheiten zermalmt und buchstäblich auf die Nerven geht: auf die des Zuhörers ebenso wie auf den Nerv der Zeit, welche so kapital aus den Fugen ist."


"Was hätte Frank Castorf in seinen besten Zeiten" wohl aus diesem, sich der Szene verweigernden Text gemacht, fragt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.4.), der Nicolas Stemanns "Montage aus Lamento, Tirade, Agitrap und Gebet" nicht überzeugend findet. "Revueartig aufgezogen, mäandert die Inszenierung zwischen Performance, Installation und Konzert, auf die Rückwand und beide Seiten werden Zeitungsartikel und Börsenkurse projiziert, Hiobsbotschaften laufen als Leuchtschriften." Überhaupt seien so ziemlich alle Mittel von A wie 'Action painting' bis Z wie 'Zaubertrick' "recht und vor allem billig", nämlich "Maskenspiel und Mediensatire, Kalauer und Kommentar". Rhapsodisch werde das Tempo gewechselt, angezogen und wieder zurückgenommen, dazwischen gelängen allerdings manchmal "bildmächtig ineinandergespiegelte Illustrationen". Insgesamt erscheint Rossmann "die Bühne als Zitatenbankhaus, in dem es Stemann mit Jelineks Stückwerk ganz ähnlich ergeht wie dem Kleinanleger mit seinem Ersparten: Das Kapital zerrinnt ihm, Folge einer Inflation der theatralen Mittel, zwischen den allzu verspielten Regiefingern."

Die Stärke des Jelinek-Textes liege "bestimmt nicht in der nüchternen Analyse der Verhältnisse, sondern in deren biblischer Übersteigerung", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (18.4.). Der Text mäandere "von der Höhe antiker Tragödien bis ins tiefe Tal des Kalauers, ist mal Martin Heidegger in ätzend, mal Otto Waalkes in läppisch". Man sieht und hört: Schauspieler, die anklagen, sie "bilden Chöre, die sich vom Flüstern bis zum Urschrei steigern, verhaspeln sich beim Vortrag am Flipchart, Bilanzgrafiken wuchern sich zum Action-Painting aus, Textbrocken machen sich rhythmisch locker und werden zu Songtexten". Irgendwann gerate die Aufführung ins Stocken und drohe "das Jelineksche Sprachgewitter die Aufführung zu unterspülen. Alles löst sich in Text auf, der sich teilweise durch ein Megaphon selbst zu sprechen scheint". Dann steigerten die Schauspieler den Abend "im Chor zu einem drängenden, drängelnden, furiosen Finale". Fazit: ein "ganz ganz großer Abend".

Als "verspätetes Colloquium" zur Daimler-Hauptversammlung begreift Peter Kümmel in der Zeit (23. 4.) diesen Abend, nicht nur, was die offenen Saaltüren sondern auch was die "hochgestimmte Langeweile" betrifft. In Köln zeige man außerdem stolz, wie sehr man von Text und Wirklichkeit überfordert sei. Doch rechte kritische Konsequenz kann Kümmel weder im Text noch in der Inszenierung erkennen. Dennoch hat es was, ahnt man zwischen seinen Zeilen, wie in Köln das Geld selbst beginnt, sich "ohne uns" zu vergnügen. "Es hat Zukunft, wir nicht. Es wird leben, wir nicht. Es wird es einmal besser haben, wir nicht." Umso bedauerlicher für Kümmel, daß Jelinek ihre meisten Witze zum Thema gnadenlos zu Tode reitet.

 

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