Die Claudia als Wille und Vorstellung

von Tomo Mirko Pavlovic

Mannheim, 17. April 2009. Claudia ist ein Mensch, der nicht erzählt werden kann. Weder im Roman noch auf der Bühne. Denn Claudia ist eine einzige Vorstellung von sich selbst, von ihren Möglichkeiten, von fremden Träumen, von unseren Sehnsüchten. Will man die eine Claudia verstehen oder gar spielen, erklingt sofort eine zweite oder dritte Stimme, welche die erste übertönt, überlagert. Es kommt zu ungeahnten Verstärkungen, reizvollen Interferenzen, und man meint dann, etwas Bedeutendes herausgehört zu haben, vielleicht diesen einen klaren, dominanten Ton – so etwas wie eine Geschichte.

Zum Beispiel jene von einer jungen, hoch begabten Claudia, die bald Abitur macht, mittelguten Sex mit ihrem Lehrer im Auto hat und dabei oben liegen möchte. Oder die Story von einer Claudia, die einen stalinistischen, paranoiden und äußerst reichen Großvater namens Konstantin hat, der sich einbildet, in Alaska existiere eine monströse Antennenanlage der Amis, die mit ihren Hochfrequenzwellen unser Wetter, die BBC, die Ionosphäre sowie unser kapitalistisches Bewusstsein erforscht und manipuliert.

Ein Stimmenteppich. Eine Phantasmagorie

Oder die Vermutung, unsere Hobby-Physikerin Claudia sei gar das fehlgeschlagene Ergebnis eines geheimen sowjetischen Menschenzüchtungsprojekts und von ihren 16 Klonschwestern könnten noch mindestens zwei Ableger jederzeit an der Tür klopfen, im Badezimmer aus dem Spiegel lächeln oder mit Konstantin als sabotierendem Racheengel Lara Croft nach Alaska reisen. Mit anderen Worten: Claudia ist alles und nichts zugleich. Ein Trauma. Ein Schulmädchenreport. Eine Phantasmagorie. Ein Stimmenteppich. Ein poetologisches Programm.

Und sicherlich eines der bemerkenswertesten Hirngespinste von Dietmar Dath. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Spex" und FAZ-Feuilleton-Mitarbeiter veröffentlichte 2007 den Roman "Waffenwetter", in dem er mittels eines fragmentarischen Tagebuchs den oszillierenden Gedankenkosmos dieser multiplen Persönlichkeit Claudia ausbreitet. Die einzelnen Erzählstränge münden am Ende in einen höchst amüsanten Sci-Fi- und Spionageroman mit apokalyptischen Anklängen.

Sternschnuppen im Schacht

"Waffenwetter" ist auch ein wundervolles literarisches Blendwerk, das sich immer wieder liest wie das Exposé eines hysterischen "Jugend-forscht"-Teilnehmers, der mit seinen physikalisch-rhetorischen Exerzitien vor allem Leute beglückt, die bei Dath'schen Satzfetzen wie "der niederstfrequente schwingungsmodus der schumannresonanz liegt bei etwa 7,83 hertz" oder "wie sieht es aus mit phasenmanipulation durch externe stimuli" eines dieser verloren geglaubten Perry-Rhodan-Hochgefühle an einem Sonntagmorgen bekommen: Man schaut in eine Mikrowelle und sieht im dunklen Schacht plötzlich Sternschnuppen. Nicht anders erging es einem bei der Uraufführung von "Waffenwetter" im Werkhaus des Mannheimer Nationaltheaters.

Aus der Nacht einer kleinen Studiobühne erscheinen drei Schauspielerinnen, die das Unmöglich scheinende hinbekommen: Daths Text nicht nur aufzusagen, sondern mit Ausnahme einiger schwacher Momente auch zu verkörpern. Und das Personal ist ja nicht ohne: da gibt es Opa Konstantin und gefühlte zwei Dutzend Claudias, nicht zu vergessen ein verferkelter Lehrer mit Verantwortungsscheu und Ehefrau; und schließlich einen Fummelfreund namens Ralf, der nach dem Lehrer dran ist, gut küsst, auch auf dem Rücksitz, aber leider zu früh kommt.

Der legitime Erbe von Rainald Goetz

Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein fühlen sich am wohlsten, wenn sie gemeinsam genau in diesen Bewusstseinstrom der jugendlichen, noch pubertierenden, altklugen Claudia tauchen und das scheinbar Alltägliche auskundschaften. Sie nehmen Drogen, streicheln ihre Körper, krümmen sich wie Embryos. Als Claudia Nr. 1 ihrem Geliebten, dem Lehrer, und seiner unwissenden Ehefrau im Kunstmuseum zufällig begegnet, heuchelt sie Desinteresse, fühlt aber den Schmerz, den Claudia Nr. 2 und 3 im Hintergrund mit ziemlich witzigen Kampf- und Prügelgesten verdeutlichen.

Und noch etwas geschieht in solchen Szenen mit "Waffenwetter": Man darf auch mal lachen. Humor also. Und das bei einem Autor, den nicht wenige Rezensenten als legitimen Erben von Rainald Goetz betrachten. Was dem Romanautor nicht gelingen will und darf, weil er seiner Skepsis gegenüber jeder psychologischen Aneignung der Figuren Tribut zollen muss, wird in den Gesten und Reden der drei Schauspielerinnen im Werkhaus zu einem echten Stück im "Stück", einer Erzählung.

Einblick in die Zeit

Die gelungene Bühnenfassung destillierten André Bücker (Regie) und Ingoh Brux (Dramaturgie) aus dem Roman. Ansonsten vertrauen die beiden dem ambivalenten Text, der jede Schlussfolgerung gleichermaßen zulässt. Am Anfang jeder diskursiven Expedition steht allerdings ein simples Bett inmitten eines Jugendzimmers (Bühne: Jan Steigert), das auf einer Drehbühne mit Projektionsparavans Einblicke gewährt: in die Seele, in die Zeit.

Auf den Leinwänden flackern Amplituden, Winterlandschaften, Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg, Assoziationsbeschleuniger, die den drei Damen vor allem dann helfen, wenn es wieder mal eine ausgiebige Mauerschau gibt, irgendwo im Publikum die Sendemasten explodieren und die Gefühle implodieren und sich der Text mal wieder nicht so geschmeidig gibt, die physikalischen Fachtermini wie eine halb erinnerte Fremdsprache aus den Mündern plumpst.

Alles andere aber wirkt unerwartet ionosphärenleicht, ein wenig elliptisch-feministisch und absolut betawellentauglich.

 

Waffenwetter (UA)
nach dem gleichnamigen Roman von Dietmar Dath Bühnenfassung: André Bücker und Ingoh Brux. Inszenierung: André Bücker, Bühne: Jan Steigert. Mit: Isabelle Barth, Ines Schiller, Dascha Trautwein.

www.nationaltheater-mannheim.de


Mehr über Dietmar Dath und das heftige Liebesverhältnis, das deutschsprachige Bühnen derzeit zu ihm unterhalten? Im Februar 2009 half Martin Laberenz Daths Roman Maschinenwinter auf die Bühne des Centaltheaters in Leipzig. Auch der letzte Berliner Pollesch-Abend Ein Chor irrt sich gewaltig wartete im April 2009 mit heftigem Dath-Bezug auf.

 

Kritikenrundschau

Oliver Jungen wirkt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (19.4.2009) ausgesprochen angesprochen von diesem Abend, (wenn auch leicht delirierend). Besonders die drei Claudia-Darstellerinnen werden sehr gelobt, die aus Jungens Sicht bei der Bändigung der Textmassen "Großes" leisten. Auch der Clou des Dath-Romans ist seiner Meinung nach grundsätzlich hervorragend in Szene gesetzt, also "die allmählich den Plot übernehmende HAARP-Metapher, die für alles steht, was das Denken steuert – und sich so natürlich auch gegen sich selbst richtet", was immer dies auch bedeuten mag. Jungen bedauert lediglich, dass im "Mannheimer High-Tech-Krieg" die Liebe etwas zu kurz kommt, und stattdessen die "King-Lear-Spuren" etwas zu wichtig genommen werden. Auch von einem "grandiosen Showdown" ist die Rede, in dem sich "sämtliche Aktivierungen des manichäischen Endkampfs" überlagern würden, "die wir aus Film, Literatur, Religion und Manifestkultur kennen, bis nur noch weißes Rauschen bleibt".

"Neben einer dichten Bühnensituation und den besten Videos der Saison (Christian Schrills/Tobias Morell)" hat Bücker für Ralf-Carl Langhals vom Mannheimer Morgen (20.4.2009) "noch einen weiteren Coup gelandet", indem er "auf kluge Weise (...) den hochanstrengenden und komplexen Text" auf drei Schauspielerinnen verteile. Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein kämpften nur sporadisch mit den "unwirtlichen Textbrocken" und hauchten ihnen vielmehr "mit furioser Spielfreude und Humor wahrlich theatralisches Leben ein". Das sei freilich "besonders dann von szenischer Dichte, wenn die Damen statt Opas marxistisch-leninistischer Bibliothek lieber Shakiras Hüftschwung studieren wollen, zeigt es doch, dass begreinte verlorene jugendliche Radikalität, weder ein Intelligenz- noch ein Bildungs-, sondern ein Motivationsproblem ist".

"Dass die hyperaktive, schizophrene Claudia sich in drei Figuren aufspaltet und dabei (...) auch die Rolle ihres Lear-Opas übernimmt, ist kein schlechter Schachzug" der Inszenierung, findet Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.4.2009). So überlagerten und fügten sich die Stimmen in ihrem Kopf "trotz mancher Durststrecken immer wieder zu einer kakophonischen Sphärenharmonie". Die drei schafften mit nur seltenen Wort-Stolperern "solo und im Chor nicht nur riesige Textmassen weg, sondern beamten "mit ekstatisch leuchtenden Augen, wissendem Kichern und rhythmischer Punk-Gymnastik einen kopflastigen Text in eine andere Dimension – die furiose konspirative Performance im Mädchenzimmer". Diese "herumalbernden Enkelinnen" des kommunistischen Opas "fechten den Kampf um die Köpfe vielleicht nicht besser, aber lebendiger aus als auf dem Papier".

Wenn "waschechte Girlies von den Problemen ihrer Adoleszenz berichten", scheint sich für Kristin Becker , die für die tageszeitung (20.4.2009) schreibt, "ein psychologisierendes Jugendstück" anzubahnen, doch dann werde "aus der anfänglichen Jugendpsychokiste ein veritables Theaterexperiment. Störgeräusche, Technomusik, Lichtwechsel, psychedelische Projektionen brechen den temporären Realismus auf". Daths "kraftvolle Hauptmetapher" der Antennenanlage hätten die Videokünstler Schrills und Morell "in suggestive Bilderbewegungen", die vor allem eine "diffuse, hochästhetische Bedrohlichkeit" inszenierten, die "nur gelegentlich von Slapstickeinlagen gebrochen wird". "Etwas fahrig aufgesagt" klängen die "Ausführungen von Daths rauschmonologisierender Protagonistin sehr viel banaler als im Roman". Die großen "Politsuaden" blieben "angenehm randständig, stattdessen konzentriert sich Regisseur Bücker auf das Alptraumwandlerische und die 'Lear'-Anspielungen", die auf der Bühne "wesentlich mehr Schlagkraft" entwickelten – nicht zuletzt dank des "spielwütigen Mannheimer Frauenkommandos", das "als physischer Ausdruck des surrealen Bewusstseinsstroms, der das Stück vorantreibt, überzeugt".

In der Süddeutschen Zeitung (21.4.2009) schreibt Theatertreffen-Juror Jürgen Berger, man verstehe, warum "deutschsprachige Theater derzeit so nach den Texten des ehemaligen Spex-Chefredakteurs und Ex-Redakteurs der FAZ" Dietmar Dath greifen. Die beiden Figuren in "Waffenwetter" transportierten "groß angelegte Gedankenspiele im Format der Kleinschreibung". In der ersten Hälfte des Buches funktioniere das insofern "prima", als Dath "atemlos in heutige Girliewelten eintaucht". Claudia sei eine "Ich-Erzählerin, die enthemmt quasselt, sich aber trotzdem einige geheimnisvolle Seelenwinkel bewahrt hat", während "Großvater ein paranoider Rentner-James-Bond ist". Ob die Theater, die viel von Dath spielen, sich allerdings mittels seiner Epik "mehr Welthaltigkeit einverleiben" könnten, werde sich erst weisen. In Mannheim allerdings sitze man erst einmal nur da und staune, weil Isabelle Barth, Ines Schiller und Dascha Trautwein als dreifaltige Claudia "derart durchs kleine Reich des hochintelligenten, sensiblen Mädchens wirbeln, dass man sich fühlt, als werde man mit ihrer Lebenswelt angefüttert". Die drei Schauspielerinnen, die "Haltungen, Temperamente und Sprechweisen" dauernd wechselten, fühlten sich in Daths Sprache so wohl "wie lebenshungrige Mädels im Chatroom". Aber auch die Bühnenfassung von André Bücker und Ingoh Brux, die eigentlich nur aus der Aufteilung des Textes auf die dreifache Claudia bestehe, sei "fein gemacht". Bis zur Alaska-Episode inszeniere André Bücker "eine wundersam changierende Bühnenerzählung". Sobald aber das tatsächlich existierende HAARP "zum Brandbeschleuniger einer ausufernden Story wird", verschwimme die Aufführung in Daths Sprachnebel. Da sich die Inszenierung hier nicht von ihrer Vorlage entferne, bliebe nur die "von Dath konzipierte verschwurbelte Apokalypse."

 

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