Schluss mit dem Stylo-Punk

von Johanna Lemke

Leipzig, 23. April 2009. Mit Robert Wilson kann man nicht so richtig etwas falsch machen. Darum war es kein Wunder, dass die Premiere von "The Black Rider" frenetisch bejubelt wurde – verdient war es aber doch. Jorinde Dröse, die am Centraltheater zuletzt "Die Schock-Strategie. Hamlet" inszenierte, machte sich an das Musical mit der etwas veralteten Bezeichnung "Rock-Oper", das allein schon wegen der Musik von Tom Waits und dem Text von William Borroughs ein Selbstläufer sein könnte.

Immerhin ist das Grundkonzept jenes der Erstproduktion von 1990, als Jürgen Flimm am Thalia Theater Hamburg es sich ordentlich was kosten ließ, Wilson und Waits zu verpflichten. Böse Zungen sagten der Thalia-Inszenierung von damals nach, sie sei "Cats für Intellektuelle", und ein bisschen mag das stimmen: Mit einem Musical lässt sich immer ein breiteres Publikum erreichen.

Gerahmte Wilson-Zitate

Ähnliche Ambitionen kann man mit etwas Arg auch Sebastian Hartmann, dem Centraltheater-Intendanten, zuschreiben. Nachdem er zu Beginn der Spielzeit das Publikum mit ziemlich starkem Tobak konfrontiert hat, setzt er jüngst verstärkt auf Leichtverdauliches – nach "Arsen und Spitzenhäubchen" nun erneut ein Musik-Abend. Dass das aber keine Inkonsequenz im Sinne eines verweichlichten Spielplans ist, zeigt "The Black Rider".

Denn auch wenn Dröse ohne aktualisierende oder provozierende Draufsicht inszeniert, schafft sie doch eine Interpretation, die ihre Handschrift erkennen lässt. Den Guru Wilson klammert sie nicht aus, aber sie hält sich auch nicht dogmatisch an ihn: Scherenschnittbilder erscheinen wörtlich eingerahmt und wirken damit wie Zitate einer Regiesprache. Und während die Gesichter der Figuren in der Thalia-Inszenierung noch scharf umrändert geschminkt waren, tragen die Gestalten in Dröses Inszenierung die Spuren der Zeit: Die Männer haben ungepflegte Haare, die Frauen tiefe Ringe unter den Augen. Hier ist nichts mehr stylo-punkig wie einst im Thalia, hier liegen die besten Tage hinter ihnen.

Sieht das nicht herrlich aus!

Dass Wilhelm zum Junkie wird, der letzten Zauberkugel, dem letzten Schuss hinterherjagt, ist nur konsequent: In einem Land, in dem man schießen lernen muss, um seine Liebste zu bekommen, bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als Jäger zu werden anstatt Dichter. Die Inszenierung ist ein Abgesang auf das entmenschlichte Suchen nach bloßen Zielen, und wenn nach der Jagd die kiloschweren Wildschweine auf der Bühne liegen und Käthchen (Henrike von Kuick) schreit: "Sieht das hier nicht herrlich aus, totes Wild im ganzen Haus!", dann ist die Freude über das Erreichte vulgär und entkoppelt von jedem Sinn.

Dröse setzt ganz auf die Wirkung der Wilson'schen Bilder, auf Tom Waits' Musik und auf die Schauspieler, die von Mal zu Mal besser zu werden scheinen. Thomas Lawinky, diesmal leider fast ein bisschen zu wenig zu sehen, singt wirklich original wie Tom Waits. Und er schaut so schön bedröppelt drein als grübelnder Bertram, dass man ihn am liebsten in den Arm nehmen möchte. Guido Lambrecht, der als feuriger Robert mit angeschnalltem Bäuchlein und Vokuhila über die Bühne galoppiert, sogar versucht zu breakdancen, gibt den armen Tropf. Auf einem Papp-Hirsch sitzend singt er röhrend: "Go away, blow your brain out – November!" – und stürzt getroffen. "The Black Rider" ist bei Dröse eine Slapstick-Groteske, aber dabei alles andere als platt.

Der Teufel mit den fettigen Haaren

Und da ist ja noch Anita Vulesica. Die größte Freude, die Sensation des Abends, als Teufel bzw. Stelzfuß. Sie singt so, wie Tom Waits als Frau klingen würde, dann wieder zirpt sie lupenrein, wie ein Teufel eben zirpen muss, wenn er den armen Wilhelm zum Jäger nach den Magic Bullets machen will. Vulesicas Spiel ist so hysterisch und markerschütternd, dass man kaum die Augen von ihr lassen kann. Mit den fettigen Haaren, die sie sich fortwährend aus dem Gesicht streicht, eine Hand immer in der Hosentasche und nach vorn gebeugt, wie man sich einen richtigen Mephistopheles vorstellt, ist sie das Androgyn-Böse in Person.

Diese grandiosen Schauspieler, zu denen auch Henrike von Kuick und Artemis Chalkidou zu zählen sind (und natürlich immer: Matthias Hummitzsch), hieven den Abend eine Ebene höher, als es der bloßen Inszenierung vielleicht gelungen wäre, denn das Wilson'sche Copyright ist doch immer ein sehr enges Korsett. Dröses Bearbeitung jedenfalls gibt den Darstellern den Raum, den sie verdienen.

 

The Black Rider. The Casting of the Magic Bullets
von William Burroughs, Tom Waits und Robert Wilson
Regie: Jorinde Dröse, Musikalische Leitung: Ingo Günther, Bühne: Julia Scholz, Kostüme: Barbara Drosihn. Mit: Artemis Chalkidou, Manuel Harder, Matthias Hummitzsch, Andreas Keller, Guido Lambrecht, Thomas Lawinky, Lore Richter, Henrike von Kuick, Anita Vulesica; Band: Simon Bodensiek, Volker Dahms, Ingo Günther, Philipp Rohmer, Bastian Ruppert, Johannes Sens.

www.centraltheater-leipzig.de

 

Jorinde Dröse inszenierte am Centraltheater auch Die Schock-Strategie. Hamlet, am Thalia Theater Hamburg brachte sie zuletzt Tom Lanoyes Mamma Medea auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

"Mephisto lebt!" applaudiert Gisela Hoyer in der Leipziger Volkszeitung (25.4.) und bescheinigt dieser generationsübergreifend bejuchzten "gruselig märchenhaften Endzeitstory von Showbusiness, Musicalseligkeit und Junkieleid" künstlerisches Gehalt ebenso wie enorme Publikumsfreundlichkeit. Die Liste der Gelobten ist lang. Ganz oben steht Thomas Lawinki als Förster Bertram, der aus Sicht der Kritikerin sogar stimmgewaltiger als Tom Waits höchstpersönlich ist. Auch die von Ingo Günther geführte sechsköpfigen Live-Combo beglückt die Kritikerin, die "hausüblich glänzende Choreografie" und auch das Bühnenbild, das "als Kulisse für das merkwürdige Geschehen" mit ihrer verstörenden wie komischen, so hysterisch überdrehten wie abgründigen Wirkung ebenfalls großen Eindruck macht.

 

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