Gesucht: Hartz IV-Empfängerin. Gebucht: Gloria

von Elena Philipp

Berlin, 23. April 2009. "Ich muss mich einfach mal wieder künstlerisch regenerieren, was Kleines, Dreckiges machen." Die Filmregisseurin Charlotte Weiss (Nina Kronjäger) hat nach ihrem schicken RAF-Film "Die Terroristin" keine Lust mehr auf Glamour. Sie möchte ran ans wahre Leben und einen "sozialkritischen, dem Realismus verpflichteten Film über die Ärmsten dieser Gesellschaft" drehen. Etwas Authentisches, Einfaches – denn wenn ein Mensch wirklich etwas zu erzählen hat, muss man einfach nur die Kamera draufhalten und fertig ist der Dokumentarfilm.

Da Charlotte eine Figur des Volksbühnen-gestählten Regieduos Christine Groß und Ute Schall ist, kommt sie mit ihren Echtheitsansprüchen nicht sehr weit. Weil sie keine Ahnung hat, wo sie ihre Hauptdarstellerin finden soll, veranstaltet sie kurzerhand ein spielfilmtaugliches Casting. Gesucht: Hartz IV-Empfängerin. Gebucht: Gloria (Christine Groß), die genau das liefert, was sich Charlotte erhofft – eine sensationelle Geschichte. Vorbestraft, Gefängnis, vergewaltigt, schwanger, Kind weggenommen, Hartz IV, alles elend. Die Story hat Gloria, Star im Off-Theater und mitnichten auf Stütze, im Warteraum aufgeschnappt. Authentisch – das bedeutet glaubwürdig, und Charlotte glaubt ihr die dringlich-leidende Performance.

Sozialkitsch aus der Konserve

Die Verfertigung des Dokumentarfilms kann das Publikum währenddessen auf einer Videoleinwand verfolgen. Die Bühne ist für Meta-Aktion reserviert: Kommentare zum Film, ab und an ein Diskurs-Schlagabtausch. Das alles in einem Sperrholzbühnenbild: Eine Bretterwand mit zwei Türen, dazwischen eine Fensteröffnung mit Blick auf eine Fototapete ("Deutscher Wald"). Im Vordergrund eine Ledercouchgarnitur und ein Glastisch, auf dem Gläser für diverse Alkoholika stehen. In der Sessellandschaft erläutert Nina Kronjäger als Charlotte die Filmszenen. "Das ist sooo furchtbar", kommentiert sie eine mit süffiger Musik hinterlegte Aufnahme ihrer selbst, in der sie in Abendrobe gemessen eine Treppe hinab schreitet. Zu Gloria fällt ihr ein: "Ich mag die Frau – sie ist kitschig."

Dass Gloria tatsächlich eine Hartz IV-Performance aufführt, in der sie Unterschichten-Klischees zum Sozialkitsch aufeinander türmt, scheint Charlotte jedoch zu entgehen. Nach dem Casting – "endlich die erste Hauptrolle!", raus aus dem Off-Theater – hat Gloria umgehend mit ihrer eigenen Inszenierung begonnen. Sie spannt Freunde und Bekannte, den Regisseur ihrer Theatergruppe als Mitspieler ein, die die Hartz IV-Familie mit Leben erfüllen: Der prügelnde Ex-Mann, die frühreife Teenager-Tochter und deren halbstarker Freund, Glorias drogensüchtiger Bruder – das sind die Dokumentardarsteller. Realität ist nun einmal inszeniert und Authentizität eine Fiktion.

Die Sache mit dem Gegenschuss

Gloria hat diese Erkenntnis verinnerlicht; Charlotte nicht. Ihre Sorge gilt der Einflussnahme auf das Gefilmte: Ist ihr Projekt selbstreflexives Cinéma Vérité oder doch Direct Cinema, bei dem Regisseur und Gefilmter vorgeben, die Anwesenheit der Kamera würde das Gezeigte nicht wesentlich verändern? Im Film sieht man wenig später den Kameramann nach einer von Gloria geschickt eingefädelten Gewalteskalation mit Charlotte diskutieren, ob man die Szene nicht gleich noch einmal nachspielen lassen sollte, damit man später ab und an einen Gegenschuss in den Film montieren kann. Unkommentiert bleibt hier nichts.

Das alles ist von Schall und Groß bunt, luftig, erheiternd und handwerklich einwandfrei inszeniert. Die Rollen purzeln durchdacht durcheinander, die Bezüge zwischen Leinwand und Bühne sind ausgefeilt. Doch bleibt ein schaler Nachgeschmack: Vom Bühnenbild über die Darstellerinnen bis hin zur Mischung aus boulevardesker Überdrehtheit, Illusionsverfertigung und gleichzeitiger -durchbrechung und dem Abspulen von Diskurs-Versatzstücken meint man das alles schon mehrmals gesehen zu haben. "Pierre und die anderen" scheint eine Hommage an René Pollesch – beinahe ausnahmslos jede und jeder der Mitwirkenden war schon einmal in einem Stück des Prater-Regisseurs und -Dramatikers zu sehen.

Eine ABM-Maßnahme für Diven?

Dem Abend mangelt es jedoch an der argumentativen Stringenz und intellektuellen Schlagkraft, die man Polleschs Theater attestieren kann. Wäre es nicht so unwiderstehlich unterhaltsam, die Grandes Dames der Volksbühne beim Räkeln und Speedsprechen zu beobachten, würde der epigonale Edelkitsch schnell langweilig. Der aufklärerische, medienkritische Gestus bleibt Pose: Der Abend entlarvt weniger, dass und wie aus Klischees Wirklichkeit fabriziert wird – das ist ja auch beileibe keine neue Erkenntnis –, sondern wie inzestuös die Berliner (Off-)Theater-Szene organisiert ist: Jede hat hier schon mal mit jedem gearbeitet; und auch im Publikum ist man bestens informiert, wer gerade wo mit wem welches Projekt gestartet hat. "Pierre und die anderen" – eine  ABM-Maßnahme für Diven, die Selbstbespiegelung einer Szene?

 

Pierre und die anderen
von Ute Schall und Christine Groß
Regie: Christine Groß, Ute Schall, Kamera: Ute Schall, Bühne: Nina von Mechow, Kostüme: Ingken Benesch.
Mit: Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Christine Groß, Nina Kronjäger, Angelika Sautter; im Film: Margarita Broich, Inga Busch, Dylan de Jong, Marie Löcker, Sean Patten, Tina Pfurr, Trystan Pütter, Mira Partecke, Clemens Schönborn, Berit Stumpf, Susan Todd, Laura Tonke, Bastian Trost und andere.
Ein Projekt von Schall / Groß und Sophiensaele in Kooperation mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

www.sophiensaele.com

 

Mehr lesen? Christine Groß konnte man zuletzt in den Polleschiaden Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors! und Ein Chor irrt sich gewaltig erleben.

 

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