Die Wirklichkeit gegen sich selbst ausspielen

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 24. April 2009. In Texas darf Amerika bekanntlich noch Amerika sein: dort trägt man schwergewichtige Cowboyboots, trinkt den Whiskey aus der Flasche, spricht rauen Umgangston und richtet seine Verurteilten gerne so schnell hin, dass Gnadengesuche zu spät kommen. In Texas, genauer im wohl fiktiven Desertstone, siedelt Jörg Graser auch seine böse Justizirrtumsposse "Jailhouse Blues" an.

Alec Motil sitzt dort hinter Gittern und wartet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Noch zwei Stunden bleiben ihm, in Wiesbaden, wo der Regisseur André Rößler das Stück zur Uraufführung brachte, ist es nicht viel mehr als eine Stunde.

Die Bühne ist unter Sand gesetzt, darauf stehen akkurat im Raum verteilt vier Saloontüren sowie vier Toaster, aus denen geröstete Brotscheiben auf den Sandboden purzeln. Es riecht mal lecker, mal verbrannt. Zur pfiffigen "Spiel mir das Lied vom Tod"-Version bringen sich alle Schauspieler in Position. Der Häftling erscheint im orangefarbenen Guantanamo-Overall mit der Nummer 4711.

Gegelter Schädel hofft auf Osterwunder

Michael Birnbaum spielt ihn als brummelnden Begriffsstutz, der zuweilen so klingt wie kleine Jungs, wenn sie auf Mafia-Pate machen. Er bewegt sich beinahe den ganzen Abend nicht vom Fleck, steht in einer nicht vorhandenen Zelle, wo es ihm einfach nicht in den gegelten Schädel will, dass der elektrische Stuhl schon auf ihn wartet. Lieber macht er sich noch Hoffnung auf seine Auferstehung. Seine Henkersmahlzeit futtert derweil der Gefängniswärter Sam Brody, den Jörg Zirnstein als agiles Bürschchen gibt. Später kommen noch der wie aufgezogen wanderpredigende Pfarrer (Sebastian Muskalla), die vollkommen durchgetickte Pflichtverteidigerin Mrs. Hampton sowie der rotnackige Sheriff himself (Tobias Randel) hinzu.

Franziska Werner spielt Mrs. Hampton, nein, sie verkörpert sie als kesse, ihre ganz eigene hüpfende Körpersprache entwickelnde Person, die ihre Gesichtszüge schönerweise so gar nicht unter Kontrolle bekommt und nebenbei unsere schlimmsten Amerikabilder karikiert als sei das ganze Leben eine Fernsehshow. Wie aus einem schlechten Film entsprungen reitet dann Protestsängerin Sandy Hopper (Eva-Maria Damasko) noch imaginäre Pferde zu, bevor sie kurz vor Schluss Alec ihr Jawort gibt.

Fieser Showbiz-Schwung mit Springtime for Hitler

Graser setzt in seinem Stück ganz auf hintersinnig schwarzen Humor, der lachen macht, auch wenn es eigentlich, wie jeder Zuschauer sehr wohl weiß, nichts mehr zu lachen gibt. Er klagt niemanden an, sondern spielt die Wirklichkeit gegen sich selbst aus. André Rößler macht daraus einen launigen Abend, der zuweilen noch mehr Tempo vertragen könnte. Besonders kurzweilig wird’s immer dann, wenn er die Schrittzahl des Stücks erhöht, um dann noch einen drauf zu satteln. Die Toastbrotschießerei der betrunkenen Gefängniscrew gerät zur sehenswerten Revueeinlage und das überdrehte "Springtime for Hitler" aus Mel Brooks Broadway-Musical "The Producers" gibt den Abend fiesen Showbiz-Schwung.

Rößler (Jahrgang 1978), ausgebildet an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch",  findet wie schon in seinen verspielten Inszenierungen von "Frühlings Erwachen" und Schnitzlers "Reigen" (beide am Staatstheater Mainz) erfrischend unverbrauchte Bilder, die nicht zuletzt davon leben, dass er die Körper der Schauspieler in Szene zu setzen versteht. Das zeigt sich ansatzweise jetzt auch in Wiesbaden, wobei Mrs. Hampton mit guten Beispiel voranwackelt.

Den Betroffenheitsschmus am Ende hätte sich Rößler deswegen schenken können. Denn der geänderte Schluss und der mit Lichttamtam vorgetragene Hinweis auf die real vollstreckte Hinrichtung von Lyonel Herrera am 12. Mai 1993 wirft dem Stück ein Lasso um den Hals und dreht ihm den Saft ab. Und das ganz ohne Not: Bei Graser steht ja, wie es geht.

 

Jailhouse Blues (UA)
von Jörg Graser
Regie: André Rößler, Ausstattung: Simone Steinhorst.
Mit: Michael Birnbaum, Eva-Maria Damasko, Sebastian Muskalla, Tobias Randel, Franziska Werner, Jörg Zirnstein.

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

"Jailhouse Blues", der nun in Wiesbaden uraufgeführte siebte Theatertext Jörg Grasers, sei eine "tolle Geschichte", "ein Stück der Unkonzentriertheit und schon als solches gelungen", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (27.4.). Obwohl es um Leben und Tod geht, verhält sich hier jedermann wie im Alltag: hört nicht zu, passt nicht auf, assoziiert frei. Das eröffnet eine Vielfalt an Witz und Möglichkeiten: Die Gruseligkeit der Todesstrafe, die noch dazu eingebettet ist in ein schlecht funktionierendes Rechtssystem, kontrastiert reizvoll mit der Lässigkeit der Texaner. Denn Graser schafft es, sympathische Figuren zu zeigen, ohne die Sache selbst zu verharmlosen. Eigentlich ist es ja sogar umgekehrt: viel schrecklicher nämlich, dass diese netten Leutchen am Tode eines Menschen beteiligt sein werden." Und dieser Part gelinge auch dem Regisseur André Rößler und seine Ensemble am überzeugendsten: "Der Übergang vom Grellen zur Menschlichkeit."

Über das Skandalon, "dass in den Vereinigten Staaten Jahr für Jahr zahlreiche Hinrichtungen stattfinden und bei der Vollstreckung der Todesstrafe nachweislich auch zu Unrecht Verurteilte zum Opfer werden", gebe es zahlreiche Filme und Theaterstücke, konstatiert Matthias Bischoff in der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen (27.4.). Jörg Graser habe nun für sein neues Stück "einen dezidiert satirischen Umgang mit dem Thema gewählt." Folgerichtig setze André Rößlers "temporeiche Inszenierung auf Zuspitzung durch Klamauk. Als lebende Comic-Figuren füllen die Schauspieler die simplen Karikaturen mit Leben und brillieren mit gelungenen Screwball-Dialogen, einer witziger und hirnrissiger als der andere." Das alles mache jedoch vergessen, dass "die rabenschwarze Komödie im Kern doch ein wenig substanzlos ist: eine wohlfeile satirische Erregung über den notorischen amerikanischen Justizmord, dem in seiner Ungeheuerlichkeit in 75 launigen Minuten nicht beizukommen ist".

In seinem "Jailhouse Blues", einem "Plädoyer gegen die Todesstrafe", ziehe Jörg Graser "Betroffenheitssoziallyrik auf links", schreibt Birgitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (27.4.): "Alle Akteure sind hier vermeintlich für die Hinrichtung – außer dem Delinquenten, versteht sich." Wie man daraus "mit einer Menge gegen den Strich gebürsteter Klischees, viel Filmmusik und engagierten Darstellern eine recht unterhaltsame Komödie machen" könne, zeige die Inszenierung von André Rößler. 70 Minuten "als schwarzhumoriger Countdown auf das Finale zu. Und da wird's dann doch mal ernst: 1993, tönt aus dem Off, entschied ein US-Gericht, dass die Hinrichtung Unschuldiger keine Verletzung der Verfassung darstelle."

 

Kommentare  
Jailhouse Blues in Wiesbaden: nette Ideen ohne Folgen
Nicht nur der geänderte Schluss gab dem Stück den Rest, auch "Springtime for Hitler" war absolut fehl am Platz in diesem Stück. Jegliche Motivation dafür fehlte. Dazu kommt, dass es immer wieder neue nette Ideen gab, die meisten aber nicht konsequent zu Ende gedacht und geführt wurden. Warum verwendet der Pfarrer sein Mikrofon nur am Anfang und dann nicht mehr? Warum verändert sich Mrs Hampton beim Auftritt des Sheriffs kurzfristig (Brille?!?) um dann aber wieder wie am Anfang zu sein? Manchmal werden die Saloontüren einbezogen, manchmal nicht. Die Liste lässt sich fortsetzen.

Auch erscheinen die Figuren ab der Hälfte des Stückes irgendwie beliebig. Schauspielerisch war die Leistung sehr gut, allein es fehlt an stringenter Regiearbeit.

Sehr unpassend auch das Abu Ghraib Bild mit Mrs. Hampton auf den Toastern und dann noch das Waterboarding aus den Zerstäuberflaschen, wo sie doch im Stück nur das Geschirr balanciert...

Grasers Text bietet von sich aus genug, der Holzhammer mit Abu Ghraib, Guantanamo, Hitler und Lyonel Herrera bringt das Stück nicht weiter, im Gegenteil.
Jailhouse Blues in Wiesbaden: dennoch erfrischend
Lieber Herr Merzenbacher,

sind sie eigentlich schon mal auf die Idee gekommen, dass all die Dinge, die sie an der Inszenierung kritisieren, auch kritisiert werden sollten? Die nicht vorhandene Konsequenz, die Willkür etc.? Ich hatte nun auch endlich mal das Vergnügen den durchaus amüsanten Abend zu sehen, und bin der Meinung, dass es hier nicht stringente Regiearbeit gefehlt hat, sondern vielmehr ihr Verständnis für den affirmativ-theatralen Zugang zu kritischen Themen! Es ist eben kein "Veronika Ferres Abend" indem eine "Neger" - Junge vor den Nazis beschützt wird und einem der moralische Zeigefinger fasst erdrückt. Die Zeiten von dieser Form kritischen Theaters sind vorbei. Auserdem finde ich die Formen der Übertreibung die Rößler gewählt hat auch in Ordnung, es ist zudem ein noch ziemlich junger Regisseur und ich finde solchen frischen Wind auf der Bühne eines solch eingestaubten Theaters wie Wiesbaden sehr lohnenswert! Sicherlich kann man sich über das ein oder andere stilistische Mittel durchaus auch streiten, aber dass soll um Himmelswillen zu keinem Parameter für inhaltliche Umsetzungen werden. Und mal ehrlich, wenn man das Stück liest, und ich habe es erst nach der Aufführung zu Hand genommen, will man es so sicher nicht auf der Bühne sehen. Es macht auf mich stark den Eindruck, als ob Graser von seinem Drehbuchdenken hier nicht wegkam, denn auf "Schnitt" lässt sich das Stück gut denken, da dieser im Film auch die Verantwortung für den Transport der Geschichte trägt, aber fürs Theater, wo nicht der Schnitt sondern ein Schauspieler Sorge zu tragen hat? Nein ... , Ich finde nicht alles gut was ich gesehen habe, aber zum großen Teil ein sehr gut umgesetzter Abend und eben eine erfrischende Jörg Graser-Uraufführung!
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