Tote Stelen in Mondlandschaften

von Georg Kasch

München, 21. Juni 2007. Sie atmen noch, laut und vernehmlich. Neun Menschenkinder, verstreut in einer apokalyptischen Landschaft liegend: Blaue, gefüllte Müllsäcke formen Hügel und Täler, bedecken die gesamte große Bühne des Münchner Residenztheaters bis an die weiß getünchten Brandmauern. Ein Seziersaal ist dieser Raum, kalt erhellt von drei Leuchtstoffröhrenreihen, die bis in den Zuschauerraum reichen.

"Wie ist diese Welt so schön. Bruder, ich muss ein Regenfass voll weinen," sagt einer. Stille. Woyzeck spricht: "Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, dass Alles in Unzucht sich übernander wälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh." Stille. Wieder Woyzeck: "Immer zu! Immer zu! Still Musik." Da richten sich alle auf wie Zombies, stehen wie Stelen in einer toten Landschaft. Nur Woyzeck an der Rampe fragt: "Wer spricht dort unten?", beugt sich hinunter zur ersten Zuschauerreihe: "Was sagt ihr? Lauter, lauter!", horcht. Stille. Alle ab.

Diese Szene ist der Höhepunkt von Martin Kušejs alptraumhaft wacher "Woyzeck"-Collage nach Georg Büchners Dramenfragment, und sie macht die Arbeitsweise des Regisseurs deutlich. Grundlage sind alle vier Textvarianten Büchners, kühn geschnitten und zu zwei Stunden neu zusammengefügt, ergänzt durch Zitate aus anderen Büchner-Werken und -Briefen. Ausführlich bedient er sich aus Cormac McCarthys mit dem Pulitzer-Preis gekröntem Roman "Die Straße", in dem ein Vater mit seinem Sohn durch eine zerstörte Welt wandert und in dieser entmenschlichten Umgebung versucht, in irgendeiner Weise Mensch zu bleiben. Kušej geht weiter: Jeder ist sich und seiner Umwelt entfremdet. Körperkontakt findet als Gewaltakt statt.

Wanderung durch zerstörte Welten
Kušej rhythmisiert seine Collage mit grellem Licht, das zwischen den Szenen abrupt verlischt und den Eindruck totaler Finsternis entstehen lässt. Zu Bert Wredes treibenden Elektrobeats ordnen sich die Szenen symmetrisch an. Barbara Melzls "Frau" stolpert ausgemergelt und verschwitzt über die Säcke und bricht leblos zusammen. Sofort nähert sich der Hauptmann, schnüffelt an ihr und will sie davonschleifen. Der Tambourmajor entreißt ihm die Beute und erweckt die Frau als sein Lustobjekt wieder zum Leben. Am Ende wiederholt sich die Szene mit Marie. Nur lebendig wird sie nicht mehr.

Das kannibalische Motiv taucht auch bei der Großmutter auf. Cornelia Froboess spielt sie als todtraurige alte Dame, Zeugin einer untergegangenen Welt. In einer der ersten Szenen erzählt sie das Büchnersche Märchen vom armen Kind. Gegen Ende zitiert sie eine Episode aus McCarthys Roman, in dem ein Kind vor den Augen der Eltern gegessen wird.

Unter Kannibalen
So formt Kušej die Welt, die Büchner in seinem Dramenfragment skizzierte, zu einem Endspiel. In dieser apokalyptischen Welt ist Woyzeck der vergebliche Rufer, der Prophet, den keiner hört. Jens Harzers Spiel zitiert alle Attribute der Figur, entzieht sich ihnen aber sogleich wieder. Er hat das "Verhetzte", ist oft gekrümmt wie das "offene Rasiermesser", das der Hauptmann als Vergleich heranzieht oder jenes Klappmesser, mit dem er später Marie töten wird. Dennoch ist er auch muskulös-kräftiger Mann, der aufrecht gehen kann, wenn man ihn lässt. Dessen dunkel-starrender, von unten schauender Blick bald etwas kindlich Weiches bekommt, bald etwas Entschlossenes. Er spricht mit hoher Stimme, dann wieder horcht er in sich hinein. Doch da scheint nichts zu sein als Ungewissheit und Verzweiflung.

Woyzeck ist die vielseitigste Figur in Kušejs Inszenierung. Juliane Köhlers Marie bleibt blass wie ihre Haut, eine Lust-Puppe im roten Kleid, am ganzen Leib zitternd vor Verlangen oder Angst. Am Ende ist's sich gleich: Da klingen ihre Todesschreie wie die der Ekstase. Ihre Wut wie ihre Leidenschaft haben etwas Aseptisches. Wenn sie sich trocken gegen ihre Brust schlägt: "Was ist es denn, das in uns hurt, mordet, stiehlt?", bleibt alles kalt. Ruckzuck ist sie nackt, schon liegt sie unter dem Tambourmajor – ein Geschäft, dessen es sich schnell zu entledigen gilt zwischen den Plastiksäcken.

Blaugrau ist der Mond wie das Unfassbare
Dieses Bühnenbild, von Martin Zehetgruber erdacht, erweist sich als Glücksfall: Die Müllsäcke bilden einen Hindernisparcours, über den die Schauspieler staksen, hechten, schlurfen. Eine blaugraue Mondlandschaft, die in ihren Falten unheimliche Auf- und Abtrittsmöglichkeiten bietet. Manchmal schimmert sie geheimnisvoll wie Wasser. Oft bleibt sie lebensfeindlich und tot. Einmal rasen Lichtreflexe über die dunkle Bühne nach oben: Sternenstaub. Dann tritt der Ausrufer auf, üppig aufgetranst im Korsett, und geht in einer Publikumsbeschimpfung am Mikrofon die aktuellen Themen durch: Regenwald? Aids? Erderwärmung? Fragt: "Was braucht diese Zeit?".

Immer wieder treten die Schauspieler an die Rampe, um Textpassagen scharf konturiert Richtung Publikum zu sprechen. Jeder Satz steht für sich, verlangt nach Reflexion – eine Verbeugung vor Büchner, eine Reverenz an Brecht. Zuweilen wirkt die Inszenierung gerade in dieser Appellhaftigkeit bemüht. Doch der Wirkung kann man sich schwer entziehen: der leeren, brutalen Welt, diesem graublauen Bilderbogen in seiner traurigen Desillusioniertheit. Es ist, als schnitte Kušej nicht nur im Text herum, sondern uns auch die Augenlider weg, damit wir besser sehen können: Ein blutiger Blick, der das Unfassbare fassen will.

 

Kritikenrundschau

"Seine Regiehandschrift liebt Totenscheine", schreibt mit wohligem Grusel Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (23.6.2007) – sichtlich begeistert von Martin Kušejs "schnell und hart geschnittenen, vorzüglich rhythmisierten Bildern", die auf ihn mitunter fast "skultptural wirken", so sehr ist darin jede Situation zu "ihrem elementarsten Ausdruck" geronnen. Besonders hoch rechnet Schmidt Kušej an, dass seine Inszenierung wieder entsentimentalisiert, "was historische Distanz zu falscher Bukolik vergoren hat", und auf diesem Weg dem Stück seine ursprüngliche Schärfe zurück erstattet.

Ganz anders Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (23.6.2007), der "dies alles" so trübe wie schick und folgenlos kitschig findet: "Weltschmerz mit Lyrikauflage fürs Schickimicki-Abonnement... Kušej, der Quäl- und Foltermeister, zieht hier sozusagen Münchner Glacéhandschuhe an, deren Dreckränder er als Mode-Aufdruck verkauft. Die Leutchen auf der Bühne jedenfalls bekommen von ihrem Regisseur .. auch nur diese eine, nicht weiter durchdachte Müllverzweiflung spendiert: Die Welt ist ja so abfallsmäßig schlecht - was bleibt uns da übrig, als uns einfach drin zu wälzen und darüber zu jammern? Als sei der Müllgott da droben an allem schuld. Und da drunten, am Müllregie-Edelstammtisch, wird jetzt mal kräftig auf die Säcke gehauen."

In der Frankfurter Rundschau (23.6.2007) zeigt Judith von Sternburg recht unterkühltes Gewogensein. Kušej interessiere sich augenscheinlich nicht für "das Gleiche" wie Büchner. Das findet sie mal mehr, mal weniger erhellend. Im Übrigen werde das Fragmentarische des Textes "nicht nur durch Leihzitate (zur Apokalypse, zur Lebensmüdigkeit) betont, sondern auch durch die Dunkelheit, die die Szenen alleine in der Gegend herumstehen lässt. Zwischendurch geschieht Wer-weiß-was, aber die Inszenierung blendet sich nach Belieben ein." Der Beifall am Ende sei wohlwollend: "mit Bravos, ohne Buhs, aber er will dann auch enden."

"Vor, hinter und über allem, den splitternden Szenen aus dem unversieglichen Woyzeck-Steinbruch: Jens Harzer, der vielleicht faszinierendste Schauspieler seiner Generation," jubelt Ronald Pohl im Wiener Standard (23.6.2007), der Martin Kušejs Weg nach München nun unaufhaltsam findet. Harzer, "der die Hände hinter dem schütter bewachsenen Kopf zusammenschlägt, als müsse er das Elend der Welt furchtbar belachen. Der mit mahlender Zunge Büchners unsterblich schöne Sätze wie zuckende Würmer herausstößt."

"Hoch intensive Bilder" beeindrucken auch Rolf May in der Münchner Lokalzeitung tz, die ihm klar gemacht haben, dass Dorn-Nachfolger Kušej sich im Staatsschauspiel "nicht gerade als Gärtner des zierlichen Geschmacks" empfehlen will.

"Starke, düstere Bilder von Gewalt und Begierde" und starke Schauspieler sorgen auch bei Gabriella Lorenz im Lokalblatt AZ für beklommene Begeisterung. Die Münchner wüssten nach dieser Einstandsinszenierung nun, was sie erwarte, schreibt sie. In die Herzen der Abonennten hat sich Kušej mit seiner radikalen Büchner-Interpretation aus ihrer Sicht allerdings nicht gerade geschmeichelt. 

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