Tal der Ahnungslosen

von Ralf-Carl Langhals

Mannheim, 25. April 2009. Dass die besten Amerika-Geschichten von Leuten stammen, die nie dort waren, sollte zu denken geben. Ob Karl May oder Franz Kafka, Sehnsüchte, Detailkenntnisse und Vorstellungsvermögen reichen allemal, das Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten als abenteuerlich zu erleben. Unsicher sind die Verhältnisse in Prärie und Wolkenkratzer ohnehin, daher nimmt es nicht Wunder, dass Kafka seinen Karl Roßmann, den traurigen Antihelden seines Romanfragments "Amerika", in Tagebüchern als "Der Verschollene" verewigen wollte.

Mit Kafka hat der Argentinier und Schloss Solitude-Stipendiat Alejandro Tantanian, nach Festivaleinladungen ("Der Idiot", Theaterformen Braunschweig 2008, "La Libertad", Schillertage Mannheim 2007) nun am Nationaltheater seine erste Inszenierung an einem deutschen Theater vorgelegt und sich viel mit dem Verschollenen und wenig mit Amerika beschäftigt.

Hoffnung auf kluge Exkurse

Bei der Rampen-Ouvertüre hören wir folgerichtig aus sieben Schauspielermündern launige wie bewegende autobiografische Anekdoten zum Thema Verlorengehen im Privatton. Silja von Kriegstein, später als Hausmädchen Johanna Brummer, Therese und Clara im Einsatz, ging am FKK-Strand von St. Peter-Ording verlustig, Gastschauspieler Diego Velázquez am anderen Ende des Atlantiks, Tim Egloff dagegen im hessischen Wald. Hübsch.

Noch einmal werden wir später Privates, dann zum Thema Erinnerung hören. Es folgt ein spanischer Schlager mit Titel "Amerika", vom Ensemble in bester Fernsehballett-Manier in Bewegung gesetzt, und wir erkennen, dass damit die Hoffnung auf kluge Exkurse, die zum Thema hätten beitragen können, abgeschrieben sind. Noch häufig wird gesungen, geshowtanzt und musiziert. My Fair Lady hat einen Auftritt, auch Madame Butterfly, nicht zu vergessen die Schubertsche Winterreisen-Krähe im Augenblick der finalen Zuspitzung. Noch möchte man zum Richtungswechsel vom Begleitkitsch zum Stoff mahnen, doch diesen Wunsch nimmt man schon bald gerne zurück.

Deutsch, englisch, spanisch und pantomimisch

In rollenden Bühnenkästen (Oria Puppo) wird die Geschichte des vom Dienstmädchen bedrängten 16-jährigen Karl zu Tableaux vivants gefühlte 30 Mal erzählt: auf deutsch, englisch, spanisch wie pantomimisch – und per Video-Zettelchen (Marc Reisner). Bis der arme Kerl, der unschuldig schuldig die Dienstmagd schwängerte, strafversetzt ein über die Bühne getragenes Modellschiff besteigt, haben Bild- und Erklärtheater bereits ein Ausmaß erreicht, das man keinem Stadthallen-Schülerstück durchgehen ließe. War bei "Libertad/Freiheit" ein südamerikanischer Geschichtenerzähler mit akademischer Eleganz, spitzbübischer Komik, Latino-Schmachtfetzen und Charme am Werk, ist bei "Amerika" ein C-Musical zu erleben, bei dem man Kafka weitgehend vergessen muss, um zu beurteilen, was den Bearbeitern zur Prosa-Vorlage eingefallen ist.

Der gescheiterte Versuch, in die ungeheure Maschinerie einer rationalisierten Welt der Arbeit und des Lebenskampfes einzudringen, wird bei Tantanian zum musischen Rührstück mit dampfender Theatermaschinerie. Auch außerhalb der Rollkästen ist es schön bunt, herrscht viel Nebel, fährt häufig die Unterbühne. Vielleicht steht all der Budenzauber für die gewaltigen Mechanismen der industriellen Institutionen, in denen Karl, zumindest in der Prosa-Fassung, versucht, sich in ein zweckfreies, kindliches Dasein zu retten.

Befremdliche Schlichtheit

Das freilich stellen Peter Pearce und Diego Velázquez mit mutiger wie adäquater Naivität in Doppelbesetzung dar, auch wenn Roßmanns Einsamkeit bei Kafka, die auch eine des Dichters ist, sich auf der Bühne in ihrer extrem existenzbedrohenden Form ohnehin als kaum umsetzbar erweist. Ragna Pitoll, Michael Fuchs, Thorsten Danner und Tim Egloff haben weitaus größere Probleme, sich auf diese befremdliche Schlichtheit einzulassen. Weder der Geschäftswelt Onkel Jakobs mit ihrem merkantilen Prinzipienschleier noch dem undurchschaubare Verwaltungsapparat des Hotels Occidental mit seinen eigentümlichen Berufsklassen und Hierarchien, wie wir sie von Josef K. im "Prozeß" und dem Landvermesser im "Schloß" kennen, schenkt Tantanian Beachtung, sondern beruft sich auf die vergleichsweise Heiterkeit, die "Amerika" gegen die vollendeten Nachfolge-Romane abgrenzt.

Karl entflieht dem System der Abhängigkeiten nicht und landet bei der Diva Brunelda (Ragna Pitoll) als Sklave ihrer Launen und Lüste, bevor ihm das unvollendete Schlusskapitel die Pforte zum "Naturtheater von Oklahoma" auftut. Was Kafka darunter auch immer verstanden haben mag, Alejandro Tantanian – There's no business like showbusiness – sieht es als schautanzsingende Insel der Glückseligen, die bei näherem Hinsehen aber auch ein Tal der Ahnungslosen sein könnte.

 

Amerika
nach Franz Kafka. Bühnenfassung von Alejandro Tantantian und Miriam Teßmar.
Regie: Alejandro Tantanian, Bühne und Kostüme: Oria Puppo, Video: Marc Reisner. Mit: Silja von Kriegstein, Ragna Pitoll, Thorsten Danner, Tim Egloff, Michael Fuchs, Peter Pearce, Diego Velázquez.

www.nationaltheater-mannheim.de


Mehr lesen? Im September 2008 inszenierte Andreas Kriegenburg an den Münchner Kammerspielen Der Prozess nach Franz Kafka.

 

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