Was passiert, wenn Blanche die High Heels auszieht

von Christian Rakow

Berlin, 30. April 2009. Die letzte Tür, nachdem der Einlass beendet ist, schlägt Jule Böwe alias Blanche DuBois zu. Und zwar eine Liefertür in der Bühnenrückwand, durch die wir eben noch auf den Ku'damm spähen konnten. Geschlossene Gesellschaft also. Kontextfrei soll es werden. Man entsagt dem sozialen Psychodrama samt der Unterschichtenjungfamilie (Stella und Stanley, der "Polacke"), die sich an einer nervösen, depravierten Bildungsbürgerin (Blanche) reibt. Stattdessen führt der Weg in die Theaterselbstbesinnung: Endstation Lehniner Platz.

In High Heels tänzelt Jule Böwe auf eine gähnend leere Bühne und holt aus dem Theaterplunder, der hinten neben einer kleinen Garderobe zusammengequetscht ist, einen Kleiderständer und einen Spiegel nach vorn. Dann lässt sie eine Bowlingkugel rollen. Wo aber wären die Kegel, in diesem Drama einer alternden Diva, als das Regisseur Benedict Andrews "Endstation Sehnsucht" auffasst? Sie werden bald erscheinen: Stella, Stanley, Mitch. Auf dass sie abgeräumt werden!

Wirbel des Narzissmus
Es ist ein Alleinunterhalterabend. Böwe verwandelt den zerrupften Paradiesvogel Blanche in einen Springteufel. Sie ist Komödiantin mit Screwball-Faktor, stets hemmungslos redselig, mal quäkend im Selbstmitleid, dann wieder voll koketter Ironie gegen sich und alle. Der Wirbel des Narzissmus zieht sie hinab. Mit zerlaufenem Make-up hockt Blanche vor dem Garderobenspiegel, wenn ihre Lebensbilanz mit deutlichem Minus gezogen ist (Alkoholismus, Markenartikelfetischismus, Nymphomanie, Schülerverführung). Der heiratswillige Mitch, ihr letzter Rettungsanker, und Schwager Stanley vergehen sich an ihr.

Am Schluss hat Blanche die glitzernden Kostüme ausgezogen, die ewige Maskerade ist gefallen. In casual Jeans steht sie, irre geworden, vor den Zuschauern und phantasiert vom Tod auf hoher See. Böwe schleudert uns unerbittlich den Kollaps einer Primadonna vor die Füße. Was hätte es für ein Abend werden können, wenn diese tragikomische Blanche nicht von ihren Allüren allein hätte leben müssen, wenn sie nur einen Counterpart gehabt hätte!

Indie-Rocker, der das Hotelzimmer zerlegen muss
Doch Regisseur Andrews gönnt seiner großen Phantastin keine Welt und keine Mitspieler. Lae Draegers Stella konkurriert allein in der Anzahl der Kleiderwechsel, serviert ansonsten brav die Drinks und darf in einem toughen Moment eine Cola über Blanches Kleid verschütten. Jörg Hartmanns Mitch ist ein redlicher Muttersohn, Marke Partnerschaftsanzeigenleser. Seine Attacke auf Blanche scheint mindestens so aus der Luft gegriffen wie der Revueflitter, der gegen Ende von der Decke herab rieselt.

Fatal aber ist die Vergeudung von Lars Eidinger. Natürlich wollte man mit seiner Besetzung den "tierischen", "untermenschlichen" Stanley gegen den Strich bürsten. "Immer locker bleiben, das ist mein Motto", so steigt er augenzwinkernd, mit freiem Oberkörper ein, ehe er sich durch ein paar vulgäre Einlassungen ein wenig Härte herbeiredet ("Da kannst Du einen drauf lassen"). Doch perlt der Schweiß vor allem vor Ratlosigkeit. Tatsächlich wirkt Eidinger hier wie ein zarter, melancholischer Indie-Rocker, der weiß, dass er auf seiner ersten Tournee mindestens ein Hotelzimmer zerlegen muss, um ernst genommen zu werden.

Kein Miteinander im Alleinunterhalterabend
Andrews Regie kennt kein Miteinander (und folglich auch kein Gegeneinander). Die Distanzen zwischen den Figuren sind grenzenlos. Für die Behauptung von Nähe und Betroffenheit sorgt eine ganze Reihe erzwungener Affektposen. Stanley knöpft schon beim ersten Kennenlernen Blanche hocherotisiert das Kleid zu (ein Knistern, das er dann über lange Szenen hinweg vergisst). Wo Brutalität demonstriert werden soll, darf Eidinger das komplette Inventar klein hauen und sich mit Bier übergießen. Bad-Boy-Pin-ups ersetzen die Figurenerzeichnung.

Die Inszenierung tritt so zweieinhalb Stunden lang auf der Stelle. Allein die Drehbühne rotiert unablässig und zunehmend schnell (auf dass auch wir beschwipst werden). "Beerdigungen sind hübsch, aber das Sterben nicht immer", meint Blanche einmal. Während der Abend jegliche Konfliktmöglichkeit beerdigt, wartet man auf die sporadischen unwillkürlichen Flashs, in denen Blanches Mitstreiter ihr Dasein bekunden. Dass es mehr als das Dasein von Kegelfiguren wäre, ist nicht zu behaupten.

 

Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Benedict Andrews, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Musik: Malte Beckenbach, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Erich Schneider. Mit: Jule Böwe, Lea Draeger, Lars Eidinger, Jörg Hartmann, Eva Meckbach, David Ruland, Gerdy Zint, Ulrich Hoppe, Elzemarieke de Vos, Vincent Redetzki.

www.schaubuehne.de


Mehr zu Benedict Andrews? nachtkritik.de schrieb zuletzt über Der Hund, die Nacht und das Messer von Marius von Mayenburg, das er im Mai 2008 an der Schaubühne zur Uraufführung brachte. Betrunken genug zu sagen ich liebe dich? entstand im Dezember 2007 ebenfalls an der Schaubühne.

Kritikenrundschau

Aus Sicht von Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (2.5.2009) hat der Abend außer Kostüme und Laufwege wenig zu bieten: "kein inneres Drama, keine Entwicklung, keine Konflikte. Nur einen zweieinhalb Stunden dauernden Zustand, durch den sich die Schauspieler wie Models der Desolatheit aneinander vorbei bewegen." Ein paar schauspielerische Bonuspunkte werden allerdings Jule Böwe gutgeschrieben, die Schäfer noch nie "so stark, so wenig als nöliges Mädchen" sah. Was dem Kritiker sonst noch aufgefallen ist? "Während Stanley (Lars Eidinger) meist von rechts kommt, tritt Mitch (Jörg Hartmann in der Bundfaltenhose des ewigen Muttersöhnchens) regelmäßig von hinten auf."

Für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (2.5.2009) hat die Inszenierung "die Kraft einer irgendwie schaubühnentypischen Trockenübung". Man glaube sich in einem tiefen Fundus-Winkel herumsitzend, "in dem abgespielte Figuren ihr zombiehaftes Unwesen" treiben würden: "verdammt bis in alle Ewigkeit und gefangen in den gut durchgekauten nervenaufreibenden Problemsituationen der bürgerlichen Klassiker". Das sei leider auch bei Jule Böwe als Blanche gleich zu sehen, die auf ihren Highheels nicht wirklich zu Hause sei. Aus Seidlers Sicht ist sie dort nur zu Theaterzwecken kurz heraufgestiegen. Auch die anderen Spieler "arbeiten sich diszipliniert im althergebrachten Als-ob-Modus psychisch und körperlich ab", ohne dass man Gelegenheit zur Identifikation bekomme.

Schlicht verhoben hat sich Regisseur Benedict Andrews nach Ansicht von Peter Hans Göpfert von der Berliner Morgenpost (2.5.2009). Die Inszenierung wirke "durchweg blutleer, atmosphärisch unbestimmt, weitläufig und psychologisch unscharf, unangemessen karikierend". Auch Hauptfigur Blanche lasse der Regisseur keinerlei Geheimnisse.

Zu ganz anderen Ergebnissen kommt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2009), für die Benedict Andrews' Inszenierung allen Ballast abgeworfen hat, und "in der gekonnten Reduktion der Zutaten und Traditionen einen bemerkenswerten Zugewinn an Wahrhaftigkeit" findet. Denn Andrews lasse sich "mit Akribie auf die Geschichte ein", die er mit Leidenschaft und Humor zu erzählen wisse. Auch habe er eine fabelhafte Hauptdarstellerin mit der "sich diesmal selbst übertreffenden Jule Böwe".

Für Gunnar Decker vom Neuen Deutschland (4.5.2009) entfaltet Böwe in dieser Inszenierung den "schrottigen Charme der Verlebtheit. Das fasziniert." Ihre Blanche sei "Brackwasser aus Weisheit und Infantilität", präzise messe sie "jeden Millimeter einer beschädigten Seele aus. Eindrucksvoll! Das Abwracken als prägende Tendenz einer Gesellschaft." Das New Orleans des Jahres 1946 entfalte in Andrews' Regie insgesamt den "traurigen Charme der Verwüstung. Es ist bereits nach der Flut. Angespültes: Unrat, Geräte aller Art, Menschen." Und Stanley? Der sei bei Eidinger "kein Macho, eher einer von heute. Eines jener weichgespülten Produkte feministischen Dauerdrucks, deren Restmännlichkeit plötzlich erwacht wie im Amokläufer die Aggression". Eidinger beweise sich "erneut als Spieler leiser Töne, die trotzdem gefährlich klingen". Draeger als Stella existiere "nur als Projektion der Eigenschaftslosigkeit. Gestaltgewordenes Wegwünschen jedes eigenen Willens". Auch Hartmanns Mitch findet Decker stark.

Nach Meinung Christine Dössels von der Süddeutschen Zeitung (4.5.2009) bleibt Andrews "die Antwort, ja, jede Idee schuldig, was ihn an diesem Klassiker der Moderne interessiert". Die Prekariats-Welt bleibe, "wie überhaupt jegliche gesellschaftliche Dimension, ausgespart". Wenn hier ein Milieu zitiert werde, "dann das des Theaters: Endstation Schauspiel". Böwes Blanche sei "eine quasselnde, quäkende Schnapsdrossel mit durchaus komischen Qualitäten; kein ätherisches Flatterwesen, sondern Tussi, Zicke, Trampel – und immer auch nervendes Kind. Doch so sehr sie als Drama-Queen gefällt: Eine Fallhöhe gewinnt sie nicht." Der Regisseur bürde ihr, "mangels konfliktträchtiger Personenführung", "ein Solo auf, in dem die anderen Figuren nur Stichwortgeber, blasse side kicks sind". Es herrsche "laueste Stadttheater-Betriebstemperatur. Da dampft nichts, schwitzt nichts, brodelt nichts." Alles, was Williams' Stück ausmache und unausweichlich zur Explosion bringe, bleibe "auf fast schon sträfliche Art Fehlanzeige". Und Kowalski sei mit Eidinger, der den Supermacho als "jungenhaften Normalo" und "verkappten Softie" gebe, "völlig gegen den Strich besetzt".

 

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