Clubleben und ein Cremeschnitten verzehrender Polizist

von Charles Linsmayer

Basel, 6. Mai 2009. 2007 hat Sebastian Nübling mit Laiendarstellern des Jungen Theaters Basel Tim Staffels "Next Level Parzival" inszeniert: als eine Lan-Party, die allmählich in die Wirklichkeit überging und der mittelalterlichen Gralssuche etwas brennend Aktuelles abzugewinnen vermochte. Nun hat Nübling mit sechs Jugendlichen der gleichen Institution Lars Triers Drehbuch zum Dogma-Film "Dear Wendy", der unter der Regie von Thomas Vinterberg 2005 in die Kinos kam, auf die Bühne des Basler Schauspielhauses gebracht. Im nackten Betonbau des Bühnenraums und in einer Bearbeitung in Basler Dialekt, die aus Lars von Triers amerikanischer Stossrichtung zum etwas in seiner Logik nicht ganz durchschaubares Schweizerisches macht.

 

Pfadfinderromantik am Lagerfeuer
Auf Hochdeutsch erzählt der Junge namens Nick zunächst die Geschichte, wie er zu einer Pistole kam, sie liebevoll Wendy nannte und eine Art Kult damit betrieb, in den er bald auch andere frustrierte Jugendliche, seinen Freund Sämi, das Mädchen Sarah sowie Freddie und Louis, mit einbezog. Sie versahen sich ebenfalls mit Schusswaffen und kamen in einer leeren Fabrikhalle zu einer Art Trainingslager bzw. zu Klub-Sessionen mit merkwürdigen Ritualen und strengem Ehrenkodex zusammen. Immer in pazifistischem Geist und ohne in den Waffen mehr als Spielzeuge zu sehen.

Da bewegt man sich zu Rockmusik der englischen Gruppe Tyrannosaurus Rex aus den sechziger Jahren, da grölt man Marschlieder wie die GIs der einschlägigen amerikanischen Garnisonsfilme, nur dass der Refrain "Mickey Mouse, Mickey Mouse" lautet, da baut man Zelte auf, gerät wegen irgendwelcher Kleinigkeiten aneinander, findet sich aber schliesslich am Lagerfeuer mit Gitarre und Geige und wunderbar romantischem Gesang zu stilechter Pfadfinderrromantik zusammen.

Harmlosigkeit und blutiger Ernst
Ein Polizist (Andrea Bettini) beobachtet die Jugendgang von Anfang an, versorgt sich in dem Laden des alten Salomon (Hans Jürg Müller), wo zwei der Gang-Mitglieder als Verkäufer arbeiten, mit Cremeschnitten, stört dann aber die Gruppendynamik, als er das Mädchen Hanna anschleppt – im Film ist es ein junger Afroamerikaner –, für das Nick den Bewährungshelfer spielen soll.

Unversehens beginnt man mit den Pistolen in die Luft zu schiessen, und als die Jugendlichen dem Polizisten die Pistole entreissen und für einen Moment der Eindruck entsteht, als wollten sie den Händler Salomon als Geisel festhalten, sterben die Jugendlichen einer nach dem andern im Maschinengewehrfeuer und wird Nick von dem Mädchen Hanna erschossen, das er hätte betreuen sollen.

Dass dieser Schluss, der die Tötung der Jugendlichen nicht als Missverständnis, sondern als kaltblütigen Mord erscheinen lässt – in einer Art schrecklichem Totentanz werden sie immer wieder neu von Gewehrsalven niedergemäht – , sehr viel unbefriedigender ist als das Finale des Films, liegt auf der Hand, wie denn auch überhaupt hier das brutale Ende nur sehr schlecht mit dem Klubleben dieser "Dandys" und mit ihrem Verhältnis zum cremeschnittenverzehrenden Gesetzeshüter in Beziehung zu setzen ist, der in seiner drolligen Art ebenso harmlos wirkt wie die sich cool gebenden Jugendlichen selbst.

Fragwürdiger Schluss, unbefangenes Spiel

Was beeindruckt an dieser Aufführung, ist das leichte, lockere, unbefangene Spiel der sechs jugendlichen Protagonisten, die geglückte Zeichnung ihrer sehr unterschiedlichen Charakterzüge und die Art und Weise, wie sie sich ganz bewusst in ihre eigene Welt einspinnen und sich darin abschliessen. Im Vergleich zu "Next Level Parzival", wo Action und Spektakel groß geschrieben waren, ist aber hier der gesprochene Text von entscheidender Wichtigkeit. So dass es ärgerlich ist, wenn die jugendlichen Stimmen ganz offenbar überfordert sind und auf weite Strecken kaum etwas zu verstehen ist.

Zudem erlahmt im zweiten Teil des Abends spürbar die Dynamik und kommt es zu Längen und zu einem Spannungsabfall, der durch die plötzliche dramatische Wende am Schluss nur unbefriedigend aufgefangen wird. Jugendliche Gewaltbereitschaft, von einer verständnislosen Erwachsenenwelt zum Terrorismus stilisiert und brutal niedergewalzt – das Thema wäre von höchst aktueller Brisanz, wird von dieser trotz aller Knallerei allzu harmlosen Basler Inszenierung aber nur in Ansätzen umgesetzt.



Dear Wendy
Nach einem Drehbuch von Lars von Trier, vom Ensemble ins Schweizerdeutsche übersetzt.
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Ursula Leuenberger.
Mit: Claudio Bagno, Andrea Bettini, Alma Handschin, Lucien Haug, Till Lauer, Julia Lehner, Manuel Miglioretto, Hans Jürg Müller.

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Das Arbeiten mit Laien, schreibt Christian Gampert auf der Webseite des Deutschlandfunkes (7.5.) , sei "derzeit große Mode am Theater". Sebastian Nübling aber habe schon zu seiner Hildesheimer Zeit Jugendliche dazu ermutigt, "sich fremde Rollen, fremde Existenzen anzueignen." Für solch sozialpädagogische Projekte winkten "wenig Lorbeeren", aber Nübling sei konsequent: Das Basler "Junge Theater", eine Art Jugendtheater-Club, dürfe mit "seiner professionellen Hilfe rechnen". Der Basler Schauspiel-Chef Elias Perrig schwöre Stein und Bein, man habe "Dear Wendy" schon weit vor Winnenden auf den Spielplan gesetzt - aber die Assoziation zu dem schwäbischen Amoklauf, schreibt Gampert, stelle sich von allein her. Der schwyzerdütsche Dialekt, den die Jugendlichen sprechen, sei "ein schöner Trick des Regisseurs: erstmal ganz harmlos tun." Die "kindlich-aggressive Waffenvernarrtheit der Amerikaner" werde hier "heruntergebrochen" auf ein "braves Schweizer Pfadfinder-Niveau". "Eigentlich sind wir Pazifisten, so die Botschaft, aber so eine Waffe gibt uns Sicherheit und macht uns bedeutsam." Der Abend habe Längen, aber die Basler Jugendlichen spielten voller Engagement, unterstützt von zwei Profis. "Die kalte Faszination an Waffen, die uns angeblich stärker machen, wird immer wieder ironisiert - und erweist sich dann doch als übermächtig und stark. Ein Laientheater-Experiment, zur Nachahmung empfohlen."

Alfred Schlienger schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (8.5.): Sebastian Nübling und sein Dramaturg Uwe Heinrich holten für ihre Aufführung die Story in den leeren, kaum definierten Raum hinein. Sie führten damit "Dear Wendy" dorthin, wo Lars von Trier mit "Dogville" selber hingegangen sei, "auf die Bühne von Verfremdung und Imagination". Und sie schälten heraus, was der Stoff eigentlich sei: "ein Gedankenexperiment". Vielleicht sei die Parabelhaftigkeit des Plots etwas offenkundig. Aber Nübling verschiebe ihn "weg vom direkt Politischen, weg von Lars von Triers Amerika-Schelte und hin zu Prozessen der jugendlichen Entwicklung, wie sie wohl notwendigerweise durchlaufen werden". Hin zu "den Mechanismen der Gruppendynamik, zur Faszination des Fetischs". Und das mache die Aufführung hoch lebendig. Und vielleicht noch aktueller, als ihr lieb sei. "Denn auch wenn die Produktion natürlich lange vor den kürzlichen Amokläufen programmiert war, lesbar wird sie jetzt – nicht nur, aber auch – vor diesem Hintergrund." Die jugendlichen Spieler stammten aus den Kursen des Jungen Theaters Basel und überzeugten in dieser Koproduktion "einmal mehr mit ihrer unbändigen Frische und Intensität, die manche Schwäche im Sprachgestalterischen mehr als wettmacht".

In der Badischen Zeitung aus Freiburg (8.5.) schreibt Bettina Schulte: "Das ist ja schon voll krass, sich in eine Pistole zu verlieben. Wie konnte das passieren? Lars von Triers Drehbuch (für seinen Film) "Dear Wendy" hat dafür keine Erklärungen." Mit der Waffe  in der Hosentasche zu sprechen, ihr das Herz auszuschütten und zu erklären, seitdem man Wendy habe, fühle man sich zum ersten Mal nicht mehr allein: So abgedreht könnten doch nur "Typen wie die Amokläufer von Littleton oder Winnenden sein". Sebastian Nübling brauche wenig dafür, um zu zeigen, dass dieses Spiel mit der Waffe ein Spiel mit dem Tod ist. Vor allem brauche er "junge begeisterungsfähige Schauspieler". Schaue man den "sechs jungen Menschen zwischen 16 und 18 beim tobenden Applaus in die vor Glück leuchtenden, erlösten Gesichter", sei der "letzte Beweis dafür erbracht, wie sehr sie sich hineingearbeitet haben müssen in diesen harten Stoff". Es sei "schlicht toll", wie sie spielen – und mit welcher Präzision sie der Regisseur choreographiert habe, "damit sie so authentisch – wozu unbedingt die schweizerdeutschen Dialoge gehören – spielen können". Nur die "jähe Eskalation der Gewalt, diesen Umschlag des Spiels in tödlichen Ernst" könne die Inszenierung "nicht plausibel machen". Dieser Schuss gehe nach hinten los: Das sinnlose Geballer neutralisiere jene Beklemmung, "die sich beim Kokettieren der jungen Waffenfreunde mit der lieben Wendy eingestellt hatte."

Claude Bühler schreibt auf den Basler onlinereports (7.5.): "Trotz aller filmischen Zitate: Nübling löste die Geschichte aus dem Film-Kontext der kleinen kanadischen Bergbaustadt, zeigte anstelle von narzisstischen Anti-Stars einfache Menschen und schuf so mit derselben Handlung und denselben Dialogen eine eigenständige Bühnenerzählung."

Mittelbegeistert zeigt sich Stephan Reuter von der Basler Zeitung (8.5.), der am Anfang der Inszenierung etwas von der gewohnten Raffinesse vermisst. Doch mit den Rissen, die das Modell des "bewaffneten Pazifismus'" des im Zentrum des Abends stehenden Jugendclubs, dessen Anführer heimlich irgendwo mit "Dear Wendy", einer Waffe herumballere, Risse bekomme, ziehe das Tempo an.  Dass es gleich Tote gibt, begeistert Reuter auch nicht sehr. Uneingeschränktes Lob bekommt nur das "quirlige Ensemble".

 

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