Zuhause ist's immer am Schlimmsten

von André Mumot

Kassel, 8. Mai 2009. Alles so schön altdeutsch hier und so schön morsch. Die Bühne ist voller Gebälk, schwerer Streben und verstreuter Planken auf dem Boden. In der einen Ecke steht, neben verstaubten katholischen Ikonen, ein mannshohes Kreuz, in der anderen ein abgewetzter Sessel. Hinten gibt es einen Baumstumpf, vorn einen Hackklotz mit einzelnen Scheiten. Und eine liebevoll gedeckte Kaffeetafel steht auch schon bereit.

Es ist eine breite Kulisse voller simultan nutzbarer Schauplätze, und die Leute, die sich durch diese unheimlich vernebelte Landschaft aus "Eiche rustikal" bewegen, tragen gehäkelte Blusen und Strickjacken, Gummistiefel und Hosenträger, Schnauzbart und Jägermantel. Das ist die so genannte Dorfgesellschaft, zu der auch ein Freiherr zählt, der manchmal als "Herr Baron" angesprochen wird, und ein Wirt, der nichts auszuschenken hat. Gespenster aus dem Bauerntheater.

Schnaufender Testosteronverströmer
In seiner Nebenspielstätte, dem TIF, zeigt das Staatstheater Kassel die Uraufführung eines Gegenwartsstückes, das rein äußerlich schon einmal komplett aus der Zeit fällt. Der 1979 geborene Autor, Benedikt Bernhard Haubrich, war von 2005 bis 2008 Regieassistent an der Schaubühne Berlin, wo er, wie  am Theater Dortmund, auch selbst inszenierte. Für sein Debüt als Dramenautor hat er sich nun einen Helden geschaffen, der als vagabundierender Fremdkörper wieder in sein altes Dorf zurückkehrt.

Frank Richartz spielt diesen Moritz Kinder als männlich schnaufenden Testosteronverströmer im Unterhemd. Die gesamte Gemeinde, die schwer unter Dürre und Feldbränden zu leiden hat, scheint seine Ankunft geradezu herbeizusehnen: "Für die Leute bist du wie ein warmer Regen, bringst alles zum Blühen", sagt seine Mutter (Christina Weiser) und möchte ihn überhaupt nicht mehr gehen lassen. Auch seine ehemalige Geliebte Elisabeth (Birte Leest) bietet ihm sofort an, sich von ihm schwängern zu lassen.

Und dann ist da noch Bertel (Björn Bonn), der ebenfalls schwer verliebt ist in seinen alten Freund und schließlich als einziger zu ihm hält, als die kriminelle Vergangenheit des Herumtreibers ans Licht kommt und plötzlich von Lynchjustiz und Steinigung die Rede ist.

Zu heilige Sau
Dass sich diese schwerblütige Handlung aus sämtlichen Klischees der Anti-Heimat-Literatur zusammensetzt, ist nicht einmal das Hauptproblem dieses Abends und dieses Stücks. Vielmehr ist es die Sprache, die sich entweder manieriert knapp gibt ("Ich muss zum Gebet." – "Warum?" – "Frag nicht."), oder unangenehm geschwollen. "Schamlos blickst du auf die Rundungen der Frau", schmettert Bertel angewidert. Und wettert dann: "Aber wie gut die Wut tut. Und tut sie gut, ist’s gut."

Moritz aber will ihn mit Reisebeschreibungen folgender Art locken: "Das Land und die Felder erstrecken sich über die Hügel, und Fontänen heißen Wassers brechen aus dem Boden, worin wir duschen können." Im Publikum verschämtes Gelächter, aber dieser Schwulst ist nicht ironisch gemeint. Genau so wenig wie die Tirade, die die bemitleidenswerte Elisabeth zu hören bekommt, als sie ihren Kinderwunsch äußert: "Du jungfräuliche Sau. Ich werd dich nicht anstechen. Du bist mir zu heilig." Die schlimmste Stilblüte aber liefert das Programmheft, in dem wir lesen dürfen, es handele sich hier um eine "Heimatsaga mit einer Sprache aus unbekannter Zeit." Ach so.

Zumindest beeindruckt das verwinkelte, äußerst atmosphärisch ausgeleuchtete Bühnenbild von Ben Baur, und Regisseur Patrick Schlösser setzt geschickt auf möglichst natürliche und bewegungsreiche Schauspielführung, um das bedeutungsschwere Pathos nicht Überhand nehmen zu lassen. Ohnehin lassen sich die Darsteller nicht unterkriegen, und die passioniert schutzlose Birte Leest schafft es sogar, echte Rührung zu erzeugen - und das in der haarsträubend abgeschmackten Rolle des debilen Dorfmädchens mit leichtem Sprachfehler, das sich willig der eigenen Schändung hingibt.

Aus einer Zeit, in der alle einmal waren
Man muss Haubrich zugute halten, dass es ihm in seinem Stück nicht wirklich ums Leben auf dem Land geht, sondern um eine Fabel, die auf Allgemeingültigkeit zielt: Um einen urtypischen Außenseiter, der wegen seiner Unangepasstheit von der Gesellschaft angehimmelt und doch von ihr nicht so akzeptiert wird, wie er nun mal ist (mordlustig zum Beispiel), dem die Frauen nur Ärger machen und Kinder andrehen, und der nur mit anderen Jungs die echte Freiheit finden kann, die er sucht: "Wir gehören nicht hierher. Wir gehören in die Sonne."

Die angeblich so "unbekannte" Zeit, in der sich dieser Ausnahmezustand aus lyrischem Selbstmitleid, aggressivem Kleinbürgerhass und kitschigem Freiheitsdrang meistens zuträgt, lässt sich im Grunde aber doch sehr deutlich angeben. Man nennt sie für gewöhnlich Pubertät.

 

Kaltes Land Heisses Land Heiliges Land (UA)
von Benedikt Bernhard Haubrich
Inszenierung: Patrick Schlösser, Ausstattung: Ben Baur, Musik: Wolfgang Siuda.
Mit: Frank Richartz, Christina Weiser, Birte Leest, Björn Bonn, Uwe Rohbeck, Enrique Keil, Uwe Steinbruch, Jürgen Wink.

www.staatstheater-kassel.de

 

Mehr lesen? In Graz brachte Patrick Schlösser im Januar 2009 Ingeborg Bachmanns Roman Malina auf die Bühne.

 

Kritikenrundschau

"Ein Außenseiter, eine Dorfgemeinschaft: Das Zeitlos-Künstliche, Parabelhafte – all das erinnert an Max Frischs 'Andorra'", schreibt Mark-Christian von Busse in der Hessischen Allgemeinen (11.5.2009) über die Kasseler Uraufführung von Benedikt Bernhard Haubrichs "Kaltes Land Heißes Land Heiliges Land". Einiges bleibe rätselhaft und seltsam abstrakt, vor allem funktioniere Haubrichs Sprache nicht: "Weniger, weil sie pathetisch, mit Bedeutung aufgeladen ist (…), sondern weil dieser hohe Ton nicht durchgehalten ist. Wo er missglückt (…), wird es unfreiwillig komisch." Das Ensemble hauche "der Kunstsprache tapfer Leben ein", die Bühne sei sogar "genial" eingerichtet, Wolfgang Siudas Musik verstärke "die düstere Atmosphäre im Funzellicht"; und Patrick Schlössers Regie schließlich sei "in vielen Details der kurzweiligen Stunde 40 Minuten (…) aufmerksam, feinfühlig."

 

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