Kafka war da

10. Mai 2009. Die Realitätsnähe von Andreas Kriegenburgs "Prozess" hatte sich bestätigt, bevor die Vorstellung überhaupt anfing. Fünf Minuten vor Beginn – das Zuschauervolk rückte sich noch zurecht, hier und dort schoben sich Nachzügler an den Knien der bereits Sitzenden vorbei durch die Reihen des Berliner Festspielhauses; ich hatte gerade mein Handy gezückt, um es ordnungsgemäß auszuschalten, und las bei dieser Gelegenheit noch schnell die SMS, die gerade eingegangen war – beugte sich ein Herr von links hinter mir vor und wies mich in strengem Ton an: "Das schalten Sie dann aber aus, ja?"

Er meinte mein Handy. Ich war konsterniert und teilte ihm mit, dass ich eben das ja gerade zu tun gedachte. Innerlich rollte ich heftig mit den Augen. Vielleicht schüttelte ich in meiner Empörung gar sichtbar missbilligend den Kopf? Jedenfalls ließ ich mir nun Zeit mit dem Ausschalten, klickte, um den Herrn noch ein bisschen nervöser zu machen, genüsslich die SMS-Liste der letzten Tage durch und ließ das Gerät erst danach – ausgeschaltet – in meiner Tasche verschwinden.

Es war übrigens zu diesem Zeitpunkt noch so früh, dass ich es schaffte, die Hälfte des Programmheft-Textes zum heute Gebotenen zu überfliegen. Schließlich packte ich mit einer ruckartigen Bewegung und auf eine demonstrative Weise, wie ich es sonst nicht zu tun pflege, meinen Notizblock aus, um deutlich zu erkennen zu geben, dass ich nicht etwa hier wäre, weil ich meine Hintermänner so gern mit lautem Mobilfunkklingeln vom ernsthaften Kunstgenuss abhielte. Wenig später ging das Licht aus, und durch die Tür im Eisernen Vorhang zwängte sich einer der acht streng gescheitelten Kriegenburg'schen K.s.

Er gab, als getreulich sich selbst in Verhaftung begebender Josef K., sein Kleiderbündel der ersten Reihe in Verwahrung und bat desgleichen, dass doch jeder im Publikum auf seinen Neben- und, so er keinen hätte, auf den Vordermann aufpassen möge. Das garantiere ein System größtmöglicher Stabilität und Sicherheit, "wo alle aufeinander achten". Schönes Gegenseitigkeitsterror-Szenario. Ich hätte mich am liebsten umgedreht und den Herrn K. hinter mir gefragt, ob er sich nicht auch an irgendetwas erinnert fühle. Aber damit hätte ich dann wohl oder übel zur Systemstabilisierung beigetragen.

(ape)

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Kommentare  
Redaktionsblog zu Kriegenburg: das Fremde im Eigenen
eine tolle Beobachtung. Mir erging es ebenso. Da entstand keineswegs ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit, sondern vielmehr eine alptraumartige Überwachungsparanoia nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das ist nur einer der vielen interessanten Aspekte von Kafkas "Prozess" - die Frage, ob das Subjekt nun zu seinem eigenen oder zum Schutz der anderen vor das (imaginäre) Gericht gestellt wird. Hier könnte man direkt anschließen an die tt-Diskussion zum Thema "Politik und Privatheit". Die Figur des Onkels als reale Person und zugleich als die innere Kontrollinstanz K.s verdeutlichte das bei Kriegenburg auf einleuchtende Weise. Hier handelt es sich um einen Mann, welcher den "Strafproceß" K.s möglicherweise nur deshalb so akribisch verfolgt, um das Vergehen K.s von der eigenen Person abzuspalten. Im Kontext von verborgener Wollust und öffentlicher Scham reizt er sich gewissermaßen am verbotenen Begehren auf, welches für ihn, von der Ratio ausgehend, eine "Schande" darstellt: "'Deine Haltung', er sah K. mit schief geneigtem Kopf an, 'gefällt mir nicht, so verhält sich kein unschuldig Angeklagter, der noch bei Kräften ist.'" Beinahe konsequent folgt darauf dann auch die Verführungsszene K.s durch Leni, die "Pflegerin" des Advokaten, welche bei Kriegenburg mit verborgener und gerade deshalb unheimlich knisternder Erotik aufgeladen ist: der Rock, welcher von den übrigen (Stimmen) K.s hochgepustet wird, während diese unter Lenis Beinen liegen. Parallel dazu hat der Onkel, welcher sich fernab dieser am rechten Bühnenrand gespielten Szene auf der rotierenden Pupille des Bühnenbild-Auges befindet, nur noch wenig Chancen, die Situation zu wenden. Sein Rufen nach Josef K. verhallt ungehört im Raum, dieser ist (wieder einmal) dem "Sumpfgeschöpf" Leni, den unkontrollierbaren Regungen des eigenen Körpers erlegen. Am Ende bleibt die Frage offen, ob nun das Fremde bekämpft wird oder nicht vielmehr das Fremde im Eigenen. Sicher ist sicher?
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