Lebenslügenglück

von Willibald Spatz

Augsburg, 10. Mai 2009. Unter den Menschen kann man diejenigen besonders gut hassen, die einen ständig mit der so genannten Wahrheit nerven, die immer alles sagen, was ihnen einfällt, weil es ihnen wichtig und richtig für die andern erscheint. Henrik Ibsen hat sich ein ganzes Stück lang den Frust auf diesen Menschenschlag von der Seele geschrieben: "Die Wildente". – Gregers Werle hat etliche Jahre seines jungen Lebens in der abgeschiedenen Natur mit der Verwaltung eines väterlichen Besitzes verbracht, bevor er zu Beginn des Stücks in die Stadt und die Häuser der Lügen zurückkehrt.

Der Vater hat ihn kommen lassen, vorgeblich um ihn mit seiner Liebe zu überschütten und ihm die Geschäfte in der Stadt zu übergeben. Schnell entlarvt ihn der Sohn: Der Vater will seine Haushälterin heiraten und der Welt eine Familienidylle vorgaukeln.

In Augsburg ist dieser Beginn vor einem geschlossenen, weißen Plastikvorhang zu erleben, auf den von hinten ein Elchschatten geworfen wird. André Willmund ist der Werle, der bald allen so auf den Geist gehen wird. Er steht frontal zum Publikum und unterhält sich mit seinem Freund Hjalmar Ekdal, der ebenfalls das Publikum anstarrt. Diese beiden haben sich in den Trennungsjahren gewaltig voneinander entfernt, sie haben absolut keinen gemeinsamen Standpunkt mehr. Der Vater steht stumm daneben und deckt sich abwechselnd das eine und andere Auge zu – er leidet an einer Krankheit, die ihn bald erblinden lässt. Drei Herren in einem Raum und doch kilometerweit voneinander weg.

Wahrheit auftischen
Nach dem Bruch mit dem Vater zieht Gregers zum Freund und dort sind die Verhältnisse erst wirklich schlimm. Der Freund, zuerst liebevoll kumpelig und später rabiat trampelig gespielt von Tjark Bernau, ist verheiratet mit einer ehemaligen Haushälterin vom alten Werle. Das allein ist schon verdächtig. Doch dann haben sie auch noch eine Tochter, die bald blind sein wird – Erbkrankheit. Gregers ist jetzt alles klar, er will mit der Wahrheit auf den Tisch, damit alle bei null anfangen könnten.

Die übereilig geäußerten Tatsachen lösen schließlich die Katastrophe aus. Der, der sich jahrelang fälschlicherweise für den Vater gehalten hat, tickt aus, verstößt die Tochter. Die will ihren Vater zurückgewinnen und lässt sich von Gregers, diesem Idioten, überreden, dafür das Liebste zu töten, was sie besitzt: eine Wildente, die auf dem Dachboden gehalten wird. Ein Schuss fällt, die Ente lebt, das Mädchen ist tot.

Die Regisseurin Sigrid Herzog hat sich dazu entschlossen, das Stück kompakt, aufs Notwendige gekürzt, aber ohne auf Wesentliches zu verzichten, auf die Bühne zu bringen. Diese schält sich, nachdem sich zuerst der Plastikvorhang gehoben hat, ein zweites Mal. Die Ecke des Raums klappt auf und gibt den Blick frei auf eine Traumwelt, die sich die Ekdal-Familie eingerichtet hat. Eigentlich ist das ein Dachboden, auf dem Tiere leben, die die Männer der Familie totschießen, um nicht ganz auf die Jagd verzichten zu müssen. Die Tiere auf dem Dachboden stehen für das schmale Glück, für das sie auf das große verzichten wollen.

Lebenskraft durch toten Hasen
Der knappe Text lässt den Schauspielern immer noch viel Gelegenheit, schön aufzuspielen. Der alte Ekdal ist Eberhard Peiker; er schlurft mit einem Gewehr über der Schulter in die Szene und bettelt müde darum, den nächsten Schuss angeben zu dürfen, um beim Tod eines Hasen wieder ein bisschen Leben aufzusaugen. Franziska Arndt ist die Frau mit dem lästigen Geheimnis, sie schleppt Bier und Butterbrote zu den Männern, um ihnen das Maul zu stopfen und wenigstens noch eine letzte Ruhe zu haben, bevor die Familie zerbricht.

Der große Gegenspieler des wahrheitsverliebten Trottels ist ein versoffener Arzt namens Relling. Er darf schöne Sätze sagen wie "Lassen Sie die Ideale und verwenden Sie unser gutes altes Wort Lügen" und "Nehmen Sie einem Menschen die Lebenslüge und Sie nehmen ihm das Glück". Diese Worte sind bei Michael Stange gut aufgehoben. Er haut sie lässig und zynisch heran an die, deren Schicksal sich da gerade entscheidet und richtet freilich nichts aus damit.

Der Schluss ist bitter, fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube und rundet einen schöne, konzentrierte Aufführung ab: Hjalmar Ekdal ist endlich bereit, sein Kuckucksmädchen anzunehmen, nachdem er sich beim Versuch, aus der Familienwohnung auszuziehen zum Affen gemacht hat. Als er das tote Kind entdeckt hat, bleibt ihm nur noch, sich nach dem einzigen zu bücken, was ihm bleiben wird von ihr: einem kleinen Spielzeugfotoapparat.

Die Wildente
von Henrik Ibsen
Deutsch von Peter Zadek und Gottfried Greiffenhagen
Regie: Sigrid Herzog, Bühnenbild: Bernhard Kleber, Kostüme: Ann Poppel, Musik: Andreas Breitscheid, Dramaturgie: Frank Zipfel.
Mit: Martin Herrmann, André Willmund, Eberhard Peiker, Tjark Bernau, Franziska Arndt, Anna Maria Sturm, Judith Bohle, Michael Stange.

www.theater.augsburg.de

 

Inszeniert haben Die Wildente auch Michael Thalheimer in Berlin (Februar 2008) und Peter Dehler in Schwerin (Mai 2008).

 

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