Bilder aus dem urbanen Ameisenhaufen

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 14. Mai 2009. Ein junger Mann wacht auf einer Parkbank auf, man hört Vögel zwitschern, eine aufdringliche Blondine im roten Kleid steht da wie eine, die noch Überstunden machen muss, während der Elektriker mit seinem Werkzeugkoffer seiner Arbeit entgegen strebt. Was mag es mit der Ritterrüstung auf sich haben, die man rechts auf der Bühne sieht? Einem Touristen im weißen Käppi fehlt es offenbar an geographischem Durchblick, aber wenn er mit dem Stadtplan in der Hand um Rat fragt, setzt ohrenbetäubendes Glockengeläut ein; er wird die Antwort nicht verstehen.

Alltags-Marginalien? Was sich im kleinen Kaffeehaus abspielt, das dürfte für die Hauptbeteiligten nichts mit Alltag und schon gar nichts mit Marginalie zu tun haben. Da wird offenbar ein Mann in flagranti mit seiner – mutmaßen wir mal – Geliebten ertappt. Von seiner Frau, möglicherweise. Aber wer weiß schon so genau um die Zusammenhänge? Erst einmal ist ja alles beiläufig, in Schwebe. Was reimen wir uns zusammen über die Frau, die hektisch mit einem altmodischen Koffer durch die Szene wuselt? Und warum heult eine andere hemmungslos, während sie einen Korb mit Akten herumschleppt?

Ein Theaterstück als Ikea-Bausatz

"Die Stunde da wir nichts voneinander wussten": 60 Seiten Regieanweisung, ein Wortschwall für ein Theaterstück ohne Worte. Peter Handke hat da 1992 eine Art Libretto für Beziehungskisten zur Verfügung gestellt, die für jede Aufführung erst zusammengezimmert sein wollen. Da sind nur mal die Bretter da und die Nägel, und bestenfalls ein Schraubenzieher. Wir kennen das von Ikea. Handkes Stück-Bausatz soll im günstigen Fall ein "Welttheater" ergeben, was der Einzelne von einem solchen auch immer erwartet.

In der Grazer Aufführung lässt der 31-jährige ungarische Theatermann Viktor Bodó Handkes Stück aufgehen in eigene Phantasmagorien. Das Heraus-Lesen und das Hinein-Interpretieren verschwimmen, und das ist sehr gut so. Den Handke'schen Anweisungstext werden ja doch die Wenigsten im Publikum gelesen haben.

Bei Handke wär's ein Platz, an dem sich die Bewegungen der Protagonisten allmählich fokussieren. Viktor Bodó hat sich von Pascal Raich gleich eine kleine Stadt bauen lassen, mehrere Guckkasten-Container links und rechts der Bühne. Da gibt es ein kleines Kaffeehaus, einen Museums-Schauraum (mit Ritterrüstung und Wächter), ein Spitalzimmer, ein Büro (wo wir einmal sehen, wie die verzweifelte Beamtin mit Akten zugeschüttet wird). Ein surrealer Touch kommt hinein, wenn sich Protagonisten plötzlich in einem Lüftungsschacht finden. Bedrohlich, wie sich der große Ventilator dreht.

Opulentes Multi-Tasking

Man kann diese kleinen Container-Spielräume flott in die Bühnenmitte rollen: Dann werden die Akteure dort für ein paar Minuten zu "Hauptdarstellern". In den Kojen tut sich aber auch sonst etwas, und um davon möglichst viel dem Publikum mitzuteilen, ist einer mit der Handkamera unterwegs: Was er entdeckt, wird auf eine Leinwand über der Spielfläche übertragen.

Mag ja sein, dass der Regisseur damit einer Idee Handkes zuwiderhandelt: Das leise, hintersinnige Fädenspinnen ist nicht die Stärke der Grazer Aufführung, sondern das opulente visuelle Multi-Tasking. Wenn Handke hinter dem scheinbar Beiläufigen einer (möglichen) Ordnung der Dinge nachspürt, so öffnet Viktor Bodó erst einmal der Hektik alle Schleusen. Er greift gerne zu filmischen Mitteln: Zeitraffer, Echtzeit, gelegentlich Slow Motion; kurze, oft ultrakurze Szenen mit scharfen Schnitten. Aber die Geschichten gehen natürlich weiter, werden verknüpft, verlieren sich auch mal wieder, um gleich wieder genauer fokussiert zu werden. Vielleicht müsste man die Aufführung fünf Mal sehen, um wirklich durchzublicken. Einige Stränge erschließen sich vordergründig, andere Figuren bleiben seltsam entrückt.

In der Hektik liegt die Kraft

Pralle Lebensfiguren da, eigenwillig-verspinnene Kunstwesen dort. Meist ist der ausgiebig eingesetzte Slapstick nur vordergründig witzig, eher spiegelt die Aufführung ein Pandämonium aus Alltagstragödien: Handke sagte einmal über sich, er wolle "lieber ahnen statt wissen". Dieses Diktum ist Herausforderung. Wie konkret darf/soll/muss ein Regisseur werden?

Scharf geschnittene Charaktere bevölkern jedenfalls die Bühne. Fünfzehn Darstellerinnen und Darsteller sind es, ein Teil aus dem Grazer Schauspielensemble, ein anderer von Viktor Bodós im Vorjahr gegründeter ungarischer Theatergruppe Szputnyik Shipping Company. Einfach toll, wie das alles getimt ist, wie in szenischen Konglomeraten von aberwitziger Turbulenz und Hektik doch ein jeder seinen individuellen Takt und die Aufführung insgesamt ihren Rhythmus findet. Das pulsiert schließlich doch mit System.

So weit sich Viktor Bodó auch von Handke entfernen mag, so trifft man sich doch in der Absicht wieder, zu zeigen: Es gibt da eine übergreifende Ordnung. Das hat einen fast religiösen Touch. Auch der vermeintliche Zufall legt Puzzleteile richtig auf. Und wenn auch im urbanen Ameisenhaufen alles chaotisch krabbelt, ist's doch nicht faul im Insektenstaate.

 

Die Stunde da wir nichts voneinander wussten
von Peter Handke
in einer Bearbeitung von Viktor Bodó
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Pascal Raich, Kostüme: Fruzsina Nagy, Komposition: Klaus von Heydenaber.
Mit: Jan Thümer, Lóte Koblicska, Peter Jankovics, Zoltán Szabó, Marina Gera, Anna Hay, Simon Ferenc Tóth, Sebastian Reiß, Thomas Frank, Kata Petó, Sophie Hottinger, Gábor Fábián, Andrea Wenzl, Steffi Krautz, Martina Stilp.

www.buehnen-graz.com/schauspielhaus

 

Mehr lesen? Im Oktober 2008 inszenierte Michael Simon Peter Handkes Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land in Karlsruhe.

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