Radikaler Brechtianismus

15. Mai 2009. Es ist ein Glaubenssatz der wohlsituierten Theaterkritik, dass mit dem Regisseur Volker Lösch ein böser Posaunenengel des Agitprop-Theaters die Bühnen in Stuttgart, Hamburg und Dresden und jetzt auch des Theatertreffens erobert hätte. Was soll das heißen, Agitprop? Agitation? Propaganda? Aber für was und wen? Die Feuilletons der Meinung machenden Gazetten wollen wissen, der Lösch propagiere plumpen Anti-Kapitalismus.

Haben die Herren eigentlich jemals zugehört? In den Dresdner "Webern", wo der Chor, mal vereinzelt, mal vereint, neben der Fantasie, die Fernsehdame Christiansen umzubringen, weitere dumpfe Tagträume von sich gab wie: "Ich würd se [die Mächtigen] einbuddeln bis hier hin und den Rest der rausguckt, anpissen und zuscheißen". Ist das Antikapitalismus?

Und träumte der Chor in Stuttgart bei Löschs Inszenierung von "Dogville" oder wiederum der Dresdner Bürgerchor im "Woyzeck" nicht vielmehr von Arbeitslagern und allem drum und dran, also offensiv faschistisch, mit einer nur zart antikapitalistisch geschminkten Rhetorik, die aber offenbar nur ein Bernd C. Sucher zu lesen verstand, der in der Süddeutschen Lösch und die Seinen der "nazistischen" Propaganda zieh. Suchers jüngere Nachgänger können dagegen offenbar nicht einmal mehr zwischen rechts und links unterscheiden.

Oder kommt unsere Theaterkritik mit ihrer ja fast vollversammelten linken Vergangenheit, von der sie nichts mehr wissen will, mit der Erinnerung an die einstigen romantischen Überzeugungen einfach nicht mehr zurecht und sucht sich nun im Lösch einen Sündenbock? Wie ist es denn mit der viel besprochenen Sehnsucht nach Wirklichkeit auf dem Theater? Wenn sie geblümt kommt, wie bei Rimini Protokoll, ist sie willkommen, nicht wenn sie in Dralon und Nylon mit Handgelenktäschchen kommt und geistigen Springerstiefeln?

Denn genau darin liegt ja die Provokation des Chorwesens des Volker Lösch: er gibt der Stimme der muffigen Minderheit, der Stimme der 10 Prozent NPD-Wähler in Sachsen und ihresgleichen anderswo eine Plattform. Der Lösch glaubt an die kathartische Kraft des Theaters wie kaum ein zweiter. Glaubt, wenn der Zuschauer hörte, was der nazistische Wanst ausdenkt, richte er sein Rückgrat auf, käme aus dem Theatersessel hoch in eine aufrechte, die Demokratie und ihre Herrlichkeiten verteidigende Haltung. Radikaler Brechtianismus: falsche Haltungen werden vorgeführt, von Löschs Chor, dass der Zuschauer begreife, es geht und es muss auch anders gehen.

Natürlich betreibt Volker Lösch ein Theater des Schmetterns. Wo er inszeniert, wird die Stimme gerne laut und die schwitzenden Körper werfen malerische Fettfalten. Lautstärke verhindert die Zwischentöne. Aber Zwischentöne alleine machen auch noch keine Wahrheit. Die kann stattdessen auch so aussehen: In Löschs "Manderlay" in Stuttgart will Grace, der gute Mensch, die Leutchen aus ihrer Sklaverei befreien und wird am Ende unversehens selbst in demokratischer Abstimmung zur neuen Sklavenhalterin gewählt.

Lösch zeigt sie, mit der Peitsche auf die Arbeiter einprügeln, die glücklich unter den Schlägen stöhnen, derweil Graces Gangster-Vater über die notwendige charakterliche Ausstattung von Wirtschaftsführern doziert. Die Unterdrückten in ihre Unterdrückung vernarrt, die Revolutionärin als Tyrannin, die soziale Marktwirtschaft als Deckmäntelchen einer Wolfsgesellschaft? Ist das grobschlächtig? Mag sein. Aber ist es deshalb schon falsch?

(jnm)


Im nachtkritik-Forum hat sich inzwischen Ludger Dünnebacke, Mitglied des Laienchors in Löschs Hamburger Marat-Inszenierung, zu Wort gemeldet.

 

Hier geht's zu den gesammelten Blog-Beiträgen im Menü "gemein & nützlich".