Exkursionen in Feuchtgebiete

von Brigitta Niederhauser

Bern, 16. Mai 2009. Auch das Berner Autorenspektakel spürt den Klimawandel. Wo letztes Jahr noch ein saftig grüner Rasenteppich ausgerollt worden war, wird heuer im knöcheltiefen Wasser gewatet. Unten Wasser, oben ein Himmel mit einer Achterbahn aus Fernsehern, auf denen die Bildstörung Programm ist. Denn der liebe Gott ist nur begrenzt auf Sendung. Ein idealer Rahmen für das performanceartige achtstündige Happening mit acht Uraufführungen, das sich das Theater aus den Rippen geschnitten hat, wie Schauspielchef Erich Sidler sagt, weil es sich ein solches Spektakel budgetmässig eigentlich gar nicht leisten könnte.

Eine Rippe spielt heuer auch eine zentrale Rolle. Das Theater hat acht Autorinnen aus der Schweiz, aus Deutschland, Kroatien, Australien und Argentinien beauftragt, ein kurzes Stück über "Verlorene Paradiese" zu schreiben. Frau und Paradies - eine nicht ganz unbelastete Beziehung, weil es ja Eva gewesen sein soll, die sich zum Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis hat überreden lassen. Dass das Paradies kein Ort zum Leben ist, das haben die Frauen schnell begriffen, und dass die Suche und die Sehnsucht nach ihm weit aufregender sind, auch.

Baum der Erkenntnis
Was passiert, wenn die Möglichkeit eines Glücks plötzlich vor der Tür steht, darüber hat Sabine Wen-Ching Wang einen vibrierend leichten Text geschrieben, über einen Mann und eine Frau, die sich zwar das Bett teilen, sich aber noch nie begegnet sind. Ein Leben mit Koffer, denn wer ein Zimmer nur für 12 Stunden pro Tag mieten kann, darf keine Spuren hinterlassen. Und doch haust unterm Bett ein havarierter Hummer, der zum Maskottchen seines Retters geworden ist, für den es in der Welt auch keinen Platz hat.

Aus dem Minidrama mit Hummer wird ein wahrhaftiges Theaterglück, denn Susanne Heising vertraut in ihrer Regie ganz dem lakonischen Text, und Sebastian Edtbauer und Suly Röthlisberger, die mal ruppig, mal verhalten zärtlich den Bettfahrplan durcheinander bringen, führen vor, wie umwerfend komisch eine himmeltraurige Geschichte gespielt werden kann.

Stereotype monologisierende Frauenfiguren
Über soviel Stilsicherheit verfügt weniger als die Hälfte der Texte und Inszenierungen, die im glitschigen Bühnenbild zwischen Absturz und Atlantis changieren. So säuft "Einbruch" von Odile Cornuz aus der französischsprachigen Schweiz mit drei monologisierenden Frauen erbärmlich in die Belanglosigkeit ab. Drei Frauen, die an ihrem Schicksal leiden, sind in der Theaterwelt eine beliebte Konstellation. Sie aus den bekannten Stereotypen zu befreien, wäre eigentlich eine spannende Herausforderung.

Doch auch die Drei-Generationen-Story des argentinischen Theatertalents Lola Arias bleibt in vertrauten Mustern gefangen, weil Regisseur Jan Stephan Schmieding darauf verzichtet, für Arias' schwarztrockenen Humor einen doppelten Boden auszulegen.

Weniger harmlos sind die Exkursionen in jene Feuchtgebiete, wo noch Handgranaten herumliegen. Daniela Janjic, gebürtige Bosnierin, lässt in "Durch Geister fahren" zwei Cousinen, die der Krieg in Ex-Jugoslawien auseinandergerissen hat, beim Wiedersehen nach Jahren aneinander vorbeireden. Nur hat Janjic diesen über weite Strecken gelungenen Dialog mit einem allzu psychologisierenden Ende entschärft.

Künstliche Paradiese des Showbiz
Die Granatäpfel tollkühn entsichert hat die kroatische Autorin Ivana Sajko, die mit "Szenen mit Apfel" bis ins Herz der paradiesischen Finsternis vordringt. Sie legiert aus Worthülsen der Politiker einen halluzinatorischen Fiebertraum, der in eine apokalyptische Zukunftsvision mündet. Mit militärischem Drive peitscht Regisseurin Dora Schneider die Textsalven durch, in denen sich der Feind in die Träume des Gegners schleicht.

Mit grobem Geschütz attackiert Vanessa Badham in der Mini-Soap "Leben und Tod von D-Star K." das künstliche Paradies des Showbiz. Ein trashiger Stoff der saftigen Klischees um einen Boy-Group-Star, dem das Gedächtnis abhanden gekommen ist, dem Regisseurin Katharina Ramser aber noch ein paar ernste Momente unterjubelt. Dabei macht Lucy Wirth als Fan einmal so hinreißend vor, über welches Potenzial dieses Billigdrama verfügte, wenn es als greller Comic aufgezogen würde.

Atlantis der Abhängigkeiten
Eine überaus stimmige Tonlage findet dafür Philipp Becker für "Angst obs wer merkt" der österreichischen Autorin Gerhild Steinbuch, eine verstörende, märchenhaft surreale Geschichte aus einem Atlantis der verzehrenden Abhängigkeiten. Schlafwandlerisch sicher bewegen sich die Schauspieler hier durch einen Text, der so tief in die Abgründe leuchtet, dass die dort verschütteten Schätze zu glimmen anfangen.

Einen ganzen Katalog von Abhängigkeiten dekliniert Rebekka Kricheldorff in "Mechanische Tiere" durch, destilliert aus dem Stoff, aus dem der Trend ist. Dabei stösst die deutsche Autorin im Dschungel der Egodefinitionen auf verblüffend solide Überlebensformeln wie "ich und du ist einer zuviel für mich". Lauter brillante Gebrauchsanweisungen, die belegen, dass es sich lohnt, auch im Supermarkt der Lifestyle-Produkte nach den Früchten vom Baum der Erkenntnis zu suchen.

 

Autorenspektakel Bern

Musik für Tiere
von Lola Arias
Regie: Jan Stephan Schieding, Kostüme: Susanne Schwarzer.
Mit: Heidi Maria Glössner, Friederike Pöschel, Nuria Sànchez.

Leben und Tod von D-Star K.
von Vanessa Badham
Regie: Katharina Ramser, Video: Tom Bernhard.
Mit: Sebastian Edtbauer, Isabelle Stoffel, Gunter Kaindl, Ernst C. Sigrist, Sabine Martin, Lucy Wirth, Jonathan Loosli.

Einbruch
von Odile Cornuz
Regie: Markus Bauer, Kostüme: Verena Kopp.
Mit: Sabine Martin, Friederike Pöschel, Suly Röthlisberger, Heiner Take.

Durch Geister fahren
von Daniela Janjic
Regie: Max Merker, Kostüme: Anna Bucher.
Mit: Lucy Wirth, Isabelle Stoffel.

Mechanische Tiere
von Rebekka Kricheldorff
Regie: Phil Hayes, Kostüme: Romy Springsguth.
Mit: Henriette Cejpek, Milva Stark, Gunther Kaindl, Andri Schenardi.

Szenen mit Apfel
von Ivana Sajko
Regie: Dora Schneider, Kostüme: Anna Bucher.
Mit: Milva Stark, Lukas Turtur.

Angst ob wers merkt
von Gerhild Steinbuch
Regie: Philipp Becker, Kostüme: Susanne Schwarzer & Romy Springsguth.
Mit: Heidi Maria Glössner, Jonathan Loosli, Ernst C. Sigrist, Andri Schenardi, Diego Valsecchi.

Corea
Sabine Wen-Ching Wang
Regie: Susanne Heising, Kostüme: Stefanie Liniger.
Mit: Suly Röthlisberger, Sebastian Edtbauer, Henriette Cejpek.

Bühne: Christoph Wagenknecht, Stückentwicklung: Erik Altorfer, Karla Mäder, Erich Sidler.

www.stadttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

Oliver Meier schreibt auf der Webseite der Berner Zeitung (18.5.): Bereits bei der ersten Ausgabe des Theatermarathons im letzten Jahr sei die Ostschweizer Dramatikerin Sabine Wen-Ching Wan mit von der Partie gewesen. Ihr Stück 'Babel Fisch' sei zum szenischen Tiefpunkt der Veranstaltung geworden. Diesmal aber sei Wen-Ching Wang ein Wurf gelungen: 'Corea' beweise, wie aus einer simplen Grundidee packendes Theater entstehen kann. "Es ist die Geschichte zweier verlorener Seelen in der Hölle des Alltags: Sie verdingt sich als Putzfrau, er wurstelt sich durchs Leben, ohne Arbeit und ohne Perspektiven." Lange teilten sie sich Bett und Zimmer, in 12-Stunden-Schichten, ohne voneinander zu wissen. Erst als John eines Tages verschläft, komme es zur "unliebsamen Konfrontation". In flüchtigen Szenen entfalte sich die "prekäre Beziehung" zwischen John und Luz, "als Schwank und Sozialdrama zugleich, charmant inszeniert von Susanne Heising, herrlich gespielt von Suly Röthlisberger und Sebastian Edtbauer".
14 Schauspieler, acht Regisseure und ein Heer von Theaterleuten hinter der Bühne" trügen zum "Monsteranlass" bei. Bei den acht Stücke, die das Stadttheater zum Thema 'Verlorene Paradiese' in Auftrag gegeben habe, kämen ausschliesslich (Jung-)Dramatikerinnen zum Zug. Das Thema Paradies sei in den Stücken "immer wieder fassbar: als doppelter Fluchtpunkt für die Figuren, eingezwängt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Melancholie und Utopie." So düster die Stoffe, so witzig und prägnant kämen sie nicht selten daher. Das Einheitsbühnenbild von Christian Wagenknecht sei ein "origineller Wurf": Fernsehgeräte "in "absonderlicher Zahl sind da zu sehen, aufgehängt im Raum, aufgetürmt am Boden, der sich als gefülltes Wasserbecken präsentiert". Aber auch ein Korsett für die Regisseure, viele wüssten "erstaunlich wenig damit anzufangen".

 

 

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