Und wer bringt den Müll Gottes raus?

von Christoph Fellmann

Zürich, 21. Mai 2009. Mit den Wartesälen ist es ja so eine Sache. In der realen Welt sind das Orte, an denen Menschen auf den Zug oder auf den Flug warten. Im Theater ist der Wartesaal aber eine Metapher, in der Menschen auf ihr Leben warten. So auch hier, in der kleinen Nebenbühne des Theaters Neumarkt an der Zürcher Chorgasse.

Acht dieser Plastikschalensitze bilden die Bühne, rundum sitzt das Publikum. Jens Rachut lässt hier warten: eine Neandertalerin, einen Swingerclubbesitzer, eine Schwangere und schließlich Agamemnon, den alten Egozentriker in trojanischer Mission, der hier freilich in zeitenüberwindender Liebe zu Gabriela Sabatini entflammt ist: für unsereins eine Has-been des Tennisgeschäfts, für Agamemnon aber aus Gründen des Zeitkontinuums als Zukünftige ganz gut in Schuss.

Von Scherben und Wünschen

Ach ja, Jens Rachut ist auch selber da. Der Punk, den man als Musiker etwa bei den Bands Angeschissen oder Dackelblut kannte, gibt hier, in seinem eigenen Stück einen älteren Herrn, der behauptet, von Berufes wegen Gott zu sein. In der Krise kann das offenbar jeden treffen, da unterscheidet sich der Posten gar nicht so sehr vom Traineramt bei, sagen wir: Bayern München. Und diesem Gott – und damit kommen wir zu den Gründen, warum hier eigentlich gewartet wird – ist sein Lieblingsspiegel abhanden gekommen und in vier Teile zersprungen. Wer ihn wieder zusammenfügt, hat bei Gott einen Wunsch frei.

Endlich ist es also soweit: Die Neandertalerin, der Swingerclubbesitzer und Agamemnon haben ihre Scherben in den Wartesaal getragen, der als Metapher hier also ziemlich strapaziert ist und über 30.000 Jahre der Menschheitsgeschichte verklammern muss. Weil, die Schwangere wird hier gleich die vierte Scherbe gebären, nach nicht weniger als elf Jahren der Trächtigkeit. Und so kommt der Swingerclubbesitzer zu einem halbwegs erfüllten Sexleben in der schlangenverseuchten Dschungelecke seines Etablissements und die Neandertalerin zu einem Foto, auf dem sie sich zum ersten Mal betrachten kann (kein schöner Anblick übrigens, am Anfang war halt das Feuer, nicht das Wasser). Bloß Agamemnon blitzt bei Gabriela Sabatini ab, was man in einer Liveschaltung zu deren Pressekonferenz in dieser Sache erfährt.

Melodram wider das wunschlose Glück

Das alles ist natürlich ein ganz furchtbarer Blödsinn, eine aus dem Geschichtsbuch, Basisstufe, zusammengeschnippelte Agitprop-Fingerübung, durchaus auch für den Regisseur und Hausherren Rafael Sanchez. Aus dem Blödsinn schält sich dann mit der Zeit aber doch eine größere Erzählung heraus, in der es um das halt unendliche Unglück des Menschen und um die Zumutungen überhaupt aller Zeiten geht und die also ein großes, melancholisch gestimmtes Verständnis für die Unzufriedenheit ihrer vier wartenden Figuren aufbringt. Noch hier, im Vorzimmer Gottes, müssen sie beispielsweise den Müll rausbringen, das hört wirklich nie auf.

Und dieses traurig versponnene Melodram wider das wunschlose Glück ist dann gelegentlich ganz schön anzuschauen und anzuhören. Es gibt traurige Lieder, in denen der Mond zerbröckelt, und zwischen vielen schwanz- und hodenwedelnden Kalauern auch den einen oder anderen schönen Einzeiler, den man sich gern ins Büchlein der schön formulierten Gedankenblitze eintragen darf, fürs nächste Tischgespräch: "Macht ist anstrengend", "Die Uhr umgestellt, die Feinde ausgewechselt", "Soll sie sich halt unglücklich verlieben, das hilft immer", oder auch nur: "Scheißkrieg".

Nach einer Stunde ist dieses charmante Weltgespinst ausgeträumt und fertig gedacht. Menschen, die sich gern mal ein "harmloses Vergnügen" zuführen und das nicht für einen Widerspruch in sich halten, dürfen voller Zuversicht ein Ticket buchen.

 

Der Spiegel (UA)
von Jens Rachut
Regie: Rafael Sanchez, Ausstattung: Gabriela Neubauer, Musik: Jonas Landerschier, Videos: Heta Multanen, Dramaturgie: Daniel Lerch.
Mit: Rahel Hubacher, Yvon Jansen, Mike Müller, Thomas Müller, Jens Rachut.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr Nachtkritiken zu Inszenierungen des Theaters Neumarkt: Die Leiden des jungen Werthers, Anna Karenina, Stuff, Biografie: Ein Spiel, Hair Story und – ebenfalls von Rafael Sanchez inszeniert – Der Boss vom Ganzen.

Kritikenrundschau

"Wie ein hakenschlagender Feldhase entzieht sich der Text allen auf Logik und Kohärenz basierenden Deutungsversuchen", schreibt Charlotte Staehelin in der Baseler Zeitung (23.5.2010) und zitiert eine Schlüsselstelle aus dem Text: "Du suchst doch was Festes, Bleibendes, aber das findest du hier nicht." So halte man sich bald recht erschöpft "an der dünnen Dramaturgie" fest. Dass die Geschichte doch nicht gänzlich daneben ging, ist aus Sicht der Kritikerin der Regie von Rafael Sanchez zu verdanken. "Er driftet nicht auf die Klamaukschiene ab, sondern verwendet den Text seriös als eine Art Partitur, legt Wert auf Rhythmus und Dynamik und setzt so die hohe Künstlichkeit des Stoffes und die eigentümliche Schönheit der Sprache gut in Szene." Auch die "eingängigen Balladen, die Jonas Landerschier den Figuren in den Mund" lege, setzten einen "wohltuenden Kontrapunkt zur vorherrschenden Bedrängnis".

 

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