Freies Feld im Gitterkäfig

von Hartmut Krug

Berlin, 25. Mai 2009. Büchners "Woyzeck", erst 1913, 77 Jahre nach dem Tod des Dichters, zu seinem 100. Geburtstag in München uraufgeführt, wird mittlerweile viel auf deutschen Bühnen gespielt. Denn das eigentlich titellose Fragment mit seinen ständig den Ort wechselnden Szenen, in denen die geschundene Kreatur Woyzeck an der Gesellschaft und ihren Gewaltverhältnissen scheitert, das zugleich Eifersuchts- und Sozialdrama, Rühr- und Aufrührstück sein kann, wird gern zum sozialpolitischen Kommentar aktualisiert und zu einem durchgehenden Handlungsstück geglättet.

So hat Volker Lösch seinen Woyzeck im vergangenen Jahr in Dresden in die Mitte der Gesellschaft eintauchen und dort an den rechten Gewaltverhältnissen scheitern lassen. In Berlin wurde der Woyzeck an der Schaubühne allein dreimal inszeniert, von Michael König, von Michael Simon und zuletzt 2003 von Thomas Ostermeier. Ostermeier verortete seinen Loser Woyzeck in die ostdeutsche Provinz, wie es auf ganz andere Weise bereits Andreas Kriegenburg 1991 an der Volksbühne getan hatte.

Nicht soziale, sondern theatrale Spielrealität

Tilman Köhler zeigt dagegen weniger eine soziale als eine theatrale Spielrealität. Köhler zersplittert Büchners Szenensplitter radikal, zuweilen bis zur Unkenntlichkeit von Figuren und Entwicklungen. Dabei zeigt seine theatrale Versuchsanordnung über den Weg eines Subjekts zum Objekt weder einen konkreten Ort noch ein genau gezeichnetes Subjekt, sondern vermittelt vor allem ein Zeitgefühl.

Bei Büchner heißt es einmal "Freies Feld", und etliche Szenen finden auf dem Jahrmarkt statt. Die offene, nackte, von einem Gitterkäfig umfangene Bühne von Karoly Risz wirkt wie ein Druckraum, - für die Stückfiguren, die Schauspieler und die Zuschauer. Wir sind gefangen, -  in undeutlichen, aber bedrängten Verhältnissen.

Diese Bühne gibt der Öffentlichkeit einer zeitlosen Gesellschaft Raum für ihr Jahrmarktstreiben. Dabei müssen die meisten Zuschauer auf der Bühne stehen und immer wieder den Schauspielern ausweichen, die durch den Raum hetzen oder ihre vier Spielpodeste durch die Menge treiben (nur wenige finden Platz auf stegartigen, unbequemen Sitzgelegenheiten). Gespielt wird mit viel körperlichem Einsatz, und ein Jazztrio gibt aus dem Rang den hektischen Antrieb dazu, während viel auf das Gitter geklettert und von den Podesten herab aufgesagt wird.

Altefrohne im Frack

Tilmann Köhler und sein Dramaturg Ludwig Haugk haben viele Szenen umgestellt, sie haben das Fragmentarische der Texte weiter getrieben und die Szenen zu Kürzestsituationen verknappt und ineinander montiert. Zugleich wurde das zwanzigköpfige Büchnersche Personal auf mehr als die Hälfte verringert, und nur fünf Schauspieler teilen sich die verbliebenen Figuren. All dies ist mit großer Kunstfertigkeit gemacht, doch vermag es allenfalls den Stückkenner zu erfreuen, während viele andere Zuschauer deutliche Verständnisprobleme hatten.

Eine Spielleiterin (Hilke Altefrohne) mit Frack und zart angedeutetem Bart wirft zu Beginn eine Pferdemaske für die Jahrmarktsszene mit dem scheinbar klugen Pferd auf die Bühne und gibt das Motto vor: "Sehn sie die Kreatur, wie Gott gemacht: nichts, nichts, nichts." Diese Ausruferin, wie alle oft mit dem Mikrofon hantierend, kommentiert, zitiert, weist an, fragt nach und flüstert ein, sagt und singt vor.

Der dunkelhäutige Michael Klammer ist ein lieb verwirrter Woyzeck, kein "offenes Rasiermesser". Robert Kuchenbuchs Tambourmajor, bei Büchner "ein Kerl wie ein Baum", ist kein strahlendes, sondern ein eher unscheinbares Mannsbild, das immer davon redet, dass es seinen Federbusch holen werde, während Julischka Eichel als Marie mit einer umgehängten Babypuppe herumtobt, ihre Augen blitzen und ihre  langen Kunsthaare wehen lässt.

Chor der Ideenträger

Sie alle sind weniger Figuren als Ideen und Teil eines vielstimmigen öffentlichen Chores, der manch Lied zwischen "Ein Jäger aus der Pfalz" und einem sinnsucherischem Choral zum besten gibt oder das "Märchen vom Arm Kind" dem Publikum, verteilt im Raum, vorträgt. Es gibt manch schöne Szene, so, wenn Marie über die Weite des Raums vergeblich ihre Arme nach Woyzeck ausstreckt und flehend ruft "Rühr mich an, Franz", oder, wenn Woyzeck sein Geld, wie in einer Stafette, letztlich vom Konkurrenten, dem Major bekommt. Doch die dramaturgische Einrichtung verdichtet keinen Aspekt des Stücks, und zugleich werden dadurch, dass außer den Darstellern von Woyzeck und Marie alle anderen mehrere Rollen spielen, die Haltungen und Handlungen des Doktors und des Hauptmanns bis zur Unkenntlichkeit verwischt.

Schön gedacht ist dann der Schluss: da stehen Woyzeck und Marie sich auf zwei Podesten gegenüber, und Woyzeck tötet sie nicht mit dem Messer, sondern mit seinen zweifelnden Worten, bis der Eiserne Vorhang zwischen ihnen herunter geht. Die Inszenierung hat ein Konzept, etliche schöne Einzelszenen und viele Aha-Momente für den Büchner-Kenner. Was der Inszenierung aber fehlt, ist nicht nur Büchners Poesie, sondern auch Spannung, Stringenz und allgemeine Verständlichkeit.


Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner. Mit: Hilke Altefrohne, Julischka Eichel, Max Fröhlich, Michael Klammer, Robert Kuchenbuch. Musiker: Daniel Büttner, Nikolaus Neuser, Jörg-Martin Wagner.

www.gorki.de

 

Mehr zu Tilmann Köhler? Zuletzt besprachen wir das Stück Und in den Nächten liegen wir stumm von Thomas Freyer, das Köhler im November 2008 in Hannover zur Uraufführung gebracht hat. Seine Weimarer Inszenierung von Faust I, die im Februar 2008 entstand, sorgte bei den nachtkritik-Kommentatoren für Gesprächsstoff.

Kritikenrundschau

"Büchners Wut körperlich genommen" lautet die Unterzeile der Kritik von Katrin Bettina Müller in der Berlin-Kultur der tageszeitung (27.5.). Wie etwa seine Inszenierung von Bruckners "Krankheit der Jugend" suche "Woyzeck" die Verbindung zwischen der Theaterliteratur und den Befindlichkeiten heute. Zusammen mit dem Bühnenbildner Karoly Risz habe Köhler schon in anderen Inszenierungen ein Raumkonzept genutzt, "das die Figuren zu Versuchskaninchen in einem großen sozialen Experiment macht." Mit welchen Mitteln der Mensch erzogen werden soll, sei für Köhler schon länger ein Thema. "Der 'Woyzeck' könnte durchaus ein historischer Pate dieser Intentionen sein (...) Aber viel mehr als ein Sympathisieren mit den Opfern bleibt von diesem Ideenhorizont nicht übrig in einer Inszenierung, die Büchners Wut und Witz vor allem mit viel körperlicher Kraft nehmen will." Verloren gehe das Unheimliche und eben doch nicht rational Erklärbare, das hinter Franz Woyzeck her ist und ihn so hetzt und leiden lässt."

Wenn man der Versuchung unterliegt, Marie in ihrer Bedeutung anzuheben, gerät die sozialkritische Absicht des Dramas in den Hintergrund, und heraus kommt ein bloßes Eifersuchtsdrama, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.5.) Aber "auch formal ist die Inszenierung nicht gelungen, gerade weil sie sich an der selbst erfundenen Theaterform abarbeitet". Die Zuschauer würden mit den Spielern in einen Käfig gesperrt, "die Akteure bahnen sich den Weg durch den Raum. Man ist ihnen so nah, dass man sie anfassen und riechen kann." Aber weil man die ganze Zeit Obacht geben muss, dass man nicht im Weg herumstehe, "erreicht Köhler gerade das Gegenteil von der vermutlich angestrebten Unmittelbarkeit, wird man immer wieder auf das Kunstwollen geworfen." Fazit: "Die Arbeit ist auf einem Stand, an dem man alle vermeintlich genialen Jahrhundert-Ideen wegschmeißen müsste, um sich zu besinnen, was man eigentlich sagen wollte, bevor man sich derart verstrickte. Das auffallend junge Publikum applaudierte dennoch.


Eine "Selbsterfahrungsdemo gegen Käfighaltung" sah Christine Wahl (Tagesspiegel, 27.5.), zumindest auf den ersten Blick. Die Zuschauer seien "quasi das eingepferchte Marktplatzvolk", vor dessen Augen sich das Drama abspielt. "Die Frage ist nur: Welches Drama? Das bleibt auch nach den achtzig Käfigminuten unter Tilmann Köhlers Regie ein großes Rätsel! Zu Beginn fällt die Orientierung noch leicht. Da haben wir es mit dem Genre 'Jugend spielt Klassiker' zu tun." Es werde dann die Schnulze "Underdog mit reinem Herzen unter dem Retro-Rüschenhemd liebt prekäre Szeneschönheit" gegeben. Köhler löse "Handlungsmuster wie Figurenzuordnungen" immer weiter auf: "ohne ersichtlichen Gewinn". Julischka Eichel spiele als Marie die eigensinnige, schräg emanzipierte Frau. "Alle anderen kämpfen darum, aus Köhlers diffuser Ansage das Beste – sprich: einen Plausibilitätsrest – herauszuholen. Hut ab für dieses schwierige Unterfangen bei einem Regisseur, der 'Woyzeck' offenbar weniger als Herausforderung betrachtet, denn als Legitimation missversteht, mit kraftmeierischer Ambition darüber hinwegzuinszenieren."

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