Utopisch, skeptisch, energetisch

von Dorothea Marcus

Recklinghausen, 4. Juni 2009. Länger hat es gebraucht, bis Darja Stocker ihr zweites Stück geschrieben hatte - länger als üblich unter hochgelobten Nachwuchsautoren, besonders wenn sie erst 26 Jahre alt sind. Ein Jahr brauchte sie ihr erstes zu schreiben: Mit "Nachtblind", einem Stück über Gewalt von Jugendlichen aus scheinbar intakten Familien, hat sie 2005 den Heidelberger Stückemarkt gewonnen und wurde gleich zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen.

Leben können wird sie von diesem Schreibrhythmus vermutlich schwerlich - andererseits kann es Theatertexten ja auch nur gut tun, nicht in einem halben Jahr aus dem Boden gestampft zu werden, um nach einer Uraufführung für immer zu verschwinden.

Man merkt Darja Stockers Stücke an, dass sie Tiefe haben und suchen, sie erzählen konkrete Geschichten in einer poetisch verdichteten, durchgearbeiteten Sprache. Das fällt auch ihrem zweiten Stück so angenehm auf, das Darja Stocker für das Berliner Maxim Gorki Theater als Auftragswerk geschrieben hat und das Armin Petras nun bei den koproduzierenden Recklinghauser Ruhrfestspielen zur Uraufführung brachte (die Berliner Premiere findet im September statt).

Ist Widerstand möglich?

Bei "Zornig geboren" handelt es sich um eine dichte Aneinanderreihung von kleinen, zunächst zusammenhanglosen Szenen aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen, in denen es darum geht, ob und wie politischer Widerstand möglich ist - in der Französischen Revolution, in der Nazi-Zeit, heute.

In der Gegenwart beginnt das Stück mit Sophie, gespielt von einer hinreißenden Britta Hammelstein: Sophie besucht ihre Großmutter in Biarritz, Olivia, die in der Resistance war - die jugendliche Cristin König ist leider mit ihrer zottelig grauen Perücke und ihrem schwarz glitzernden Abendkleid als Großmutter etwas unglaubwürdig.

Micha (Carlo Ljubek), aus einer ganz anderen Welt aber dennoch aus der Gegenwart, träumt dagegen davon, Maler zu werden und sucht seinen Vater, der ihn in einem One-Night-Stand gezeugt hat. Mara wiederum kommt aus einem osteuropäischen Land und lebt hier mit einem Mann, der sie aushält, gespielt wird sie von Anja Schneider sehr affektiert mit aufgeworfenen Lippen, hautengem roten Kleid und großem Ausschnitt.

Und ausgerechnet sie, die aussieht wie eine Sexarbeiterin, verwandelt sich auf der Vergangenheitsebene in die historische Figur der Olympe de Gouges, die Frauenrechtlerin der Französischen Revolution, als eine der ersten Opfer von Robespierres Terror mit 45 Jahren hingerichtet. Sophie wird zur Schreiberin, die Olympe das Lesen und Schreiben erst beibringt. Mit gepuderten Gesichtern, Reifröcken und barock hochgetürmten Haaren erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten und -pläne.

... es kommt darauf an sie zu verändern

Es gibt zunächst keine Zusammenhänge zwischen den Handlungs- und Zeitebenen, außer dem inneren Furor und das Bedürfnis, etwas zu ändern an dieser Welt. Armin Petras hat alle konkreten Beschreibungen im Stück - Klaviere, Chaiselonguen, Umzugskartons - ignoriert und auf die Bühne lediglich drei Quader aus zusammengeschnürten Wasserkanistern gestellt, im Hintergrund die Videolandschaft eines Schlachtfelds mit Schiffen - oder ist es eine Wüstenlandschaft?

Projiziert werden gewaltige, zuckende Bilder zu suggestiver Musik von Radiohead oder dem wütenden Song "La rage" der globalisierungskritischen Rapperin Keny Arkana - Petras zeigt auch gleich Ausschnitte des extrem schnell geschnittenen Videos.

Wie ist politischer Widerstand möglich? Darja Stocker und Armin Petras umkreisen diese Frage in assoziativ und elliptisch erzählten Geschichten über Einzelfiguren, die mit absolutem Einsatz ihres Selbst die Welt verändern wollen - und letztlich scheitern. Ob unter der Guillotine oder so wie Micha und Sophie in der Gegenwart, in der sich sich finden, um ihren afrikanischen Freund Somu zu retten, der bei der Flucht nach Europa an einem Zaun gestrandet ist, von Polizisten gefoltert wird  - aber schließlich doch stirbt. Ein Video zeigt dazu Puppen, die in Zäunen hängen oder tot am Boden liegen.

Rundumschlag über Elend der Welt

Es ist schon beeindruckend, wie diese großen, unzähligen Geschichten von Petras wie hingetupft erzählt werden und dem Zuschauerkopf größtmögliche Fantasietätigkeit erlauben: die Folterszene wird vom Maler Micha vorweggenommen, in dem er Somu ein rotes Zeichen auf eine Leinwand malt, die er anschließend zerschneidet - auf der Leinwand flimmern danach Menschenmassen, Ozeanwellen, verhungerte Kinder, Hühnerkadaver an der Stange.

Dabei haben die Schauspieler und ihr Regisseur Stockers Stück als Steinbruch und Anregung benutzt - große Passagen wurden durch Textimprovisationen erweitert und verändert. Auch der Schluss: "Ich will zurück inmein Land", schreit Mara. "Da ist Krieg", warnt Sophie, "Ja Krieg", ruft Mara.

Natürlich haben sich Stocker und Petras dabei viel zu viel vorgenommen in ihrem Rundumschlag über das Elend der Welt, Globalisierung, afrikanische Flüchtlinge, Europas grausame Grenzen, Welthunger, Frauenhandel.

Und doch werden in Recklinghausen Bruchstücke von Geschichten erzählt, die sich zwar nur mit einiger Anstrengung zusammenfinden und sehr hoch greifen, aber durch die sehr glaubwürdige Identifikationsfigur Sophie doch zusammen gehalten werden. Sie spielt einfach eine kämpferische junge Frau, die, von ihrer Großmutter und historischen Vorbildern inspiriert, für ihre Ideale kämpft. Und damit schlicht ihre einfache, kleine, wenn auch so schaurig vergebliche Geschichte erzählt.

So dass zuletzt aus diesem gut gemeinten, gnadenlos überfrachteten Abend, trotzdem eine beeindruckende, mutige, energetische und gänzlich ironiefreie Utopie wird.

 

Zornig geboren (UA)
von Darja Stocker
Regie: Armin Petras, Bühne: Ulrike Siegrist, Kostüme: Valerie von Stillfried, Video: Niklas Ritter, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Britta Hammelstein, Jürgen Lingmann, Cristin König, Anja Schneider, Carlo Ljubek.

Koproduktion des Maxim Gorki Theater Berlin mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen

www.ruhrfestspiele.de


Mehr zu den diesjährigen Ruhrfestspielen? Wir berichteten über Alice Buddenbergs Inszenierung der Hedda Gabler mit Constanze Becker; über Eros von Helmut Krausser, adaptiert für die Bühne und inszeniert von Christine Eder; und über Sam Mendes' britisch-amerikanischen, mit Filmstars besetzten Kirschgarten.

 

Kritikenrundschau

Darja Stockers "Zornig geboren" erzähle "auf verschiedenen Zeitebenen vom Sinn politischen Engagements", beschreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (8.6.2009). Dabei nehme die Autorin durchaus "in Kauf, dass manche Szenen unverständlich bleiben oder sich erst später erschließen. Der Text wirkt unfertig, fragmentarisch, es macht viel Mühe, sich durch ihn hindurch zu beißen". Regisseur Armin Petras wolle es den Zuschauern da einfacher machen, stifte aber noch mehr Verwirrung, wenn er alles zwischen Wasserflaschen-Plastik spielen und die Schauspieler beständig Maske und Kostüme wechseln lasse sowie mit Fotos, Videos, lauten Musikeinsätzen arbeite. "Viel Emotionsschmiere für einen Text, der Ruhe und Klarheit braucht, um zu wirken." Außerdem habe Petras stark gekürzt, lasse viel improvisieren und suche allzu oft "Zuflucht zu abgenutzten Bildern". Immer wieder aber schaffe das Ensemble "starke Szenen, intensive Blickkontakte, Momente, in denen sie plötzlich drin sind, in welcher Situation auch immer". Keim sieht "Potenzial im Stück und in den Schauspielern" und hofft auf eine "richtige Uraufführung" bei der Berliner Premiere.

Auch Christiane Enkeler führt im Deutschlandfunk (Kultur heute, 5.6.2009) aus, dass man "beim Lesen viele Schlüsse selbst ziehen" müsse und die äußeren Zusammenhänge nur langsam erkenne. Stockers Themen vermittelten sich trotzdem, obwohl manches "zu vage" bleibe. Das Hauptproblem von Petras' Inszenierung sieht Enkeler darin, "dass er weder das Struktur-Prinzip" des Textes "noch ein menschliches Thema, eine Basis-Konstante herausarbeitet. Diverse Stilmittel, die man woanders auch schon mal gesehen hat, lassen den Abend auseinanderfallen". Nur wenn die Darsteller ohne große Hilfsmittel spielen, könne es sehr menschlich werden.

Arnold Hohmann
sieht für das Internet-Portal Der Westen (8.6.2009) die junge Autorin sich "das ganze Elend dieser Welt auf ihre Schultern" laden. Es gehe bei ihr "um den Aufruf zum Widerstand gegen alles – die Folgen der Globalisierung, das Leid der Migranten aus Afrika, den Hunger in der Welt, entmündigte Frauen und die Grausamkeit Europas" – "mehr ein Zornesausbruch mit Pamphletcharakter". Auch wenn es bei Stocker "sprachlich einiges zu entdecken" gebe, bleibe doch "das Unbehagen beim ausdauernden Betrachten eines ständig erhöhten Adrenalinspiegels". Bei Petras dürfe der sich auch "in Farbschmiereien und heftigem Gefuchtel mit Degen und Baseballschläger äußern. Was Inszenierung und Stück nicht besser machen."

Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (7.6.2009) hat ein "überzeugendes Ensemble" am Werk gesehen, für das er stellvertretend die "faszinierende Cristin König" nennt. Petras begegne Stockers "Drang nach Relevanz" mit "Video- und Musikgetöse, das mit dem Song 'Le rage' der algerisch-französischen Rapperin Keny Arkana eine phantastische Wucht erhält". Aus den historischen Szenen mache der Regisseur "überdrehtes Puderquastentheater", aber gerade dadurch würden die Figuren transparent, "die Rollen in der Gegenwart schimmern unter der Tünche hindurch, die verästelte Spielerei Stockers wird verdichtet, die Stränge beleuchten und kommentieren sich gegenseitig stärker, als im Text ohnehin schon angelegt". Irritierenderweise sei Stocker "die Sprache der französischen Revolution und die der zornigen Oma Olivia am besten gelungen; Flüchtlingsakzent und Jugendjargon wirken dagegen fahrig", was Petras wiederum verleite, auch das Historische "mit obsolet gewordenem Probengeplapper aufzurauen".

 

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