Deutschland privat

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 6. Juni 2009. Geschichte ist, wenn man nach zwei Wochen Urlaub mit Schmetterlingen im Bauch nach Hause kommt und plötzlich vor einer Wand steht. Vor der Mauer. Den Hauseingang gibt es nicht mehr. An der Rückseite klafft ein Loch. Überall Kameras, Stacheldraht, Soldaten, Maschinenpistolen und – Angst. Die Nachbarn stürzen sich aus den Fenstern in die Freiheit oder in den Tod. Denn diese Mauer führt mitten durch die Bernauer Straße, zwischen dem französischen und dem sowjetischen Sektor in der nun endgültig geteilten Stadt.

Und mitten durch das verliebte Herz von Hannah Schmidt, die jetzt viel lieber an diesen gut aussehenden Jungen und seinen Kuss am letzten Abend am Plattensee denken würde. Doch es ist Sommer 1961 in Berlin. Alles ist jetzt Geschichte. Und ein vierzehnjähriges Mädchen darf nicht mehr träumen.

Perspektive der Schwächsten

Das Junge Ensemble Stuttgart (Jes) zeigt in Kooperation mit dem Theater New International Encounter (NIE) in "Berlin, 1961", wie eine Familie an der Weltpolitik auseinander bricht, indem sie eine einzige Perspektive wählt – und zwar den Blick der Schwächsten. Ein kluger dramaturgischer Kniff. Hannah erzählt Geschichte mit ihren Worten, unverstellt, überhaupt nicht altklug und sympathisch ignorant. Sie erklärt nichts, was sie nicht weiß.

Die Mauer ist noch kein politischer Begriff, sie bedeutet zunächst einmal eine Veränderung des Alltags: Hannah kann nicht mehr ins Lieblingskino Fox, wo sie vor dem Urlaub "Frühstück bei Tiffany" gesehen hat, und ihre Freundlich kann sie auch nicht besuchen, der sie wahnsinnig gern alles über diesen süßen Ungarn verraten wollte.

Im Grunde ist es ja eine schreckliche Story, die sie einem da auftischt: Paul, ihr Bruder, wird fliehen. Ihr Vater wiederum will nicht rüber, weswegen Hannahs Mutter verzweifeln wird. Und Marek, der nette Nachbar, entpuppt sich neuerdings als brutaler Spitzel der Stasi. Hannah landet sogar irgendwann im Gefängnis und wird gefoltert, so lange bis sie verrät wie Paul gefälschte Westpässe organisiert hat. Das Happy End kann warten.

Weinen, keifen, verdrängen

Hannah wird mit dem Hochziehen der Mauer unfreiwillig erwachsen, verschlossener, härter. Ein bisschen so wie ihre Heldin, Audrey Hepburns Luder Holly Golightly, summt sie "Moon River" und fühlt, dass dieses Leben keine Party, keine echte Blake-Edwards-Komödie sein wird. Trotzdem oder gerade deswegen ist "Berlin, 1961" eine unglaublich komische Geschichte, weil Menschen sich normalerweise auch in den historischsten Augenblicken völlig normal, sprich unhistorisch peinlich präsentieren. Sie weinen, sie keifen, sie verdrängen.

Die sechs gut aufgelegten Darsteller stürzen sich mit Verve auf diese unheroischen Kleinbürgerschwächen und spielen und trällern und musizieren drauf los, als gäbe es für Körper und Requisiten kein Morgen. Besonders Tomas Machacek verschüttet seinen betörenden Slapstick-Charme wie eine fallengelassene Wodka-Flasche im Raum, dekliniert als Nachbar Marek und eitler russischer Grenzsoldat Sergej jedes slawische Brachialklischee durch, rollt wie irre die Augen und sein verführerisches "Rrrrr", und schleppt am Ende nach einem Ivan-Rebroff-artigen Bärengebrumm mit Schwung auch noch Hannahs Mutter ab, Elisabet Topp, welche die katastrophierte Mutter gibt. Und zwar – so Hannahs selbstreferenzieller Wink – "wie  eine Schmierenkomödiantin".

Hellblau wie der Sommerhimmel

Tatsächlich ist das Overacting von Eisabeth Topp umso verträglicher, wenn jemand die Masche kommentiert. Den besten Trick in diesem Stück, die Mauerschau der Mauer, verrät niemand, was gut ist. Hannahs Vater ist praktischerweise blind und wie das Publikum erfährt auch er nur aus dem Mund der Tochter (eine über allem schwebende Sarah-Ann Kempin) vor den Rängen stehend und ins Nichts blickend, was gerade angezettelt wird.

Das klingt konstruiert, wirkt aber plausibler als ständiges Radiohören. Gerd Ritter umgibt den Hermann mit einer Aura der hoffnungslosen Unnachgiebigkeit – der Hiob aus der Bernauer Straße. Sein letzter Trost ist das Polieren des eigentlich wichtigsten Akteurs an diesem Abend: der Trabi. Hellblau wie der Sommerhimmel über Berlin spielt er die brillante Mehrfachrolle des Jugend- und Wohnzimmers, der Mauer, auch eines Wachturms, der Folterzelle und des verruchten Cafés der Volkssolidarität. Er dreht sich wild im Kreis. Tanzt über die Bühne schwerleicht wie die Gefühle eines deutschen Mädchens im Sommer '61.

 

 

Berlin, 1961 (UA)
Ensembleproduktion des Jungen Ensemble Stuttgart mit dem New International Encounter (NIE)
Inszenierung: Kjeli Moberg und Alex Byrne, Dramaturgie: Christian Schönfelder, Ausstattung: Julia Schiller.
Mit: Sarah-Ann Kempin, Gerd Ritter, Elisabet Topp, Alexander Redwitz, Aude Henrye, Tomas Machacek.

www.jes-stuttgart.de
www.nie-theatre.com

 

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Kritikenrundschau

Für Adrienne Braun (Stuttgarter Zeitung, 8.6.) ist dies eine "wunderbar geglückte Produktion", die "geistreich und originell mit den Mitteln des Theaters spielt", aber "alles andere" als Mainstream ist. Das verdanke sich auch der Kooperation des Jungen Ensembles Stuttgart mit dem New International Encounter. Denn so seien Szenen entstanden, die "die Härte der Realität" zeigen, "wenn Hannah verhört wird und Soldaten Wache schieben am Todesstreifen" etwa. "Aber der Regie gelingt es, das Verstörende dieser Momente durch die Mittel des Theaters zu relativieren, ja abzumildern", etwa durch das Aussteigen aus den Rollen. Überhaupt zeige sich an diesem Abend eine "Lust am verrückten Spiel", vor allem mit dem "Hauptrequisit", einem "Trabi". Diese Inszenierung beweise damit nicht nur, dass "Theater Politik und Geschichte verständlich machen kann, sondern vor allem, dass Theater eine ungeheuer lustvolle Angelegenheit ist".

Für Ole Detlefsen (Esslinger Zeitung, 9.6.) erzählt dieser Abend eine Geschichte, "die aufgrund ihres hohen Realitätsgehalts anrührt". Die Inszenierung komme "dabei wohltuend ohne pädagogischen Zeigefinger aus, unterhält durch ein interaktives Ensemble und gut dosierte Tempiwechsel". Was den Witz angehe, "balanciert er jedoch zuweilen auf einem schmalen Grat zwischen urkomisch und höchst albern". Und einige Figuren, "zum Beispiel die der Mutter (Elisabet Topp), verlieren durch ihre gnadenlose Überzeichnung an Glaubwürdigkeit". Auch der Dialog zwischen einem deutschen und russischen Grenzpolizisten zum Thema "Schießbefehl" hole lieber "die billigsten Lacher mit dem bemüht komischen "Schießen-Scheißen"-Wortspiel ab, anstatt die Absurdität der Situation anzuprangern". Andererseits bleibe einem "das vergnügte Glucksen schon mal im Halse stecken". Obwohl also "an manchen Stellen weniger Komik den größeren Effekt erzielt hätte, ist ein temporeiches, aufwühlendes, unterhaltsames Theaterwerk entstanden".

 

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