For now, this is her voice

von Kerstin Edinger

Recklinghausen, 9. Juni 2009. "Ich dachte, Großbritannien sei ein guter Ort. Ein Land, wo die Menschen sich grüßen. Ein Land mit vielen Möglichkeiten. Landschaften wie im Bilderbuch. Schafe, Gras, Kühe." Die drei adrett gekleideten jungen Frauen lesen den Text von Visitenkarten ab, als hätten sie sich das Gesagte wie Journalistinnen notieren müssen, um es nicht zu vergessen.

Sie sprechen die Sätze einer jungen Frau aus Osteuropa, die zwar mit einem kleinen Koffer, dafür aber mit umso größeren Hoffnungen auf ein besseres Leben nach Großbritannien kommt. Drei Darstellerinnen verkörpern eine Frau, alle sind exakt gleich gekleidet: ein leichtes Sommerkleid mit einer kurzen Jacke darüber. Sie sprechen den Text, wiederholen ihn, kommen ins Stocken, nehmen ihn auf Band auf und spielen ihn wieder ab. Die Geschichte wird nicht geradlinig erzählt, sondern setzt sich wie ein Puzzle aus Einzelteilen zusammen. Die Bewegungen sind oft stilisiert, sie folgen einer Choreographie, die manchmal träumerisch und leicht, manchmal abgehackt und marionettenhaft ist. Melancholische Klaviermusik vom Band lässt erahnen, dass die Sache kein gutes Ende nehmen wird.

So viel wert wie ein Eis

Die Geschichte beginnt harmlos und endet schockierend. Es ist die Geschichte einer namenlosen jungen Frau aus Osteuropa, die kurz nach ihrer Ankunft am Londoner Flughafen Opfer von Sexhändlern wird. Sie wird in ein Auto geschleppt und brutal zum Sex gezwungen. Erst einmal, dann immer und immer wieder. Männer bringen sie von Stadt zu Stadt. Sie wird um die 1500 Mal vergewaltigt. 1500 Pfund haben die Männer für sie bezahlt. Das macht ein Pfund pro Vergewaltigung, "so viel, wie ein Eis kostet".

Die englische Frauen-Theatergruppe "The Paper Birds" wurde für "In a thousand pieces" beim Fringe-Festival in Edinburgh mit Lobeshymnen überschüttet und ist nun damit bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen zu Gast. Was die drei "Paper Bird"-Frauen mit geringen finanziellen Mitteln auf die Beine stellen ist ein politisches Thema, das Großbritannien wie Deutschland gleichermaßen betrifft. Sie wollen mit ihrem Stück den vielen namenlosen Frauen, die als Sexsklavinnen in Europa gefangen gehalten werden, Gehör verschaffen. "In a thousand pieces" gibt keine fertigen Antworten, sondern legt den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die sich mit diesem Problem zwar konfrontiert sieht, es aber am liebsten verschweigen möchte.

Schwerer Stoff – leicht erzählt

Es ist eine Glanzleistung, wie wunderbar leicht und unverkrampft dabei mit diesem schweren Stoff umgegangen wird. Kein kopflastiges politisches Fingerzeig-Theater ist das. Keine Schuldzuweisungen oder Lösungsvorschläge. Das Hauptanliegen der drei ist es, die Geschichte überhaupt zu erzählen. Und trotz des Themas gelingt es ihnen, unterhaltsam und witzig zu sein.

Immer wieder fließt dokumentarisches Material ins Stück mit ein. Bürger wurden befragt, was ihnen zu verschiedenen europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien einfällt. Spontan antworten sie: Bratwurst und Lederhosen, Eiffelturm und Baguette, Pizza und Pasta. Die Darstellerinnen bewegen zum Doku-Text ihre Lippen, was sehr komisch aussieht. Und wie steht's mit Polen, Russland oder Rumänien? Erst langes Grübeln, dann Schweigen – hierzu fällt fast keinem etwas ein. Den "Paper Birds" gelingt es, damit auf den Kern des Problems zu zielen: auf die Ignoranz der Menschen gegenüber Dingen, die sie nicht unmittelbar betreffen. Ohne dabei die Interviewten vorzuführen.

Das Unerzählte erzählen

Auch die emotionalen Momente, die "In a thousand pieces" erzeugt, werden immer wieder gekonnt gebrochen – es ist brutal und poetisch, ästhetisch und verwirrend zugleich. Das gibt dem Stück einerseits einen fragmentarischen Charakter, andererseits gelingt es den "Paper Birds" trotzdem, ein stimmiges Gesamtbild zu zeichnen.

Die drei Frauen in ihren schönen Kleidern bewegen sich zu leiser Klaviermusik. Leicht und träumerisch. Doch jäh durchbricht diese Anmut das plötzliche Hinfallen und ihre zuckenden Körper am Boden. Ihre verzweifelten Gesichter, dazu Schreie vom Band. Die Vergewaltigungsszenen kommen für den Zuschauer ebenso überraschend wie für das Opfer – und schockieren deshalb umso mehr. Wir erfahren immer mehr Details, Stück für Stück setzt sich die Geschichte zusammen. Dass dennoch vieles ungesagt und offen bleibt, erhöht die Authentizität noch weiter.

Es ist ein packender, ein verwirrender Theaterabend über den Sexhandel in Europa. Das Stück endet abrupt: "Wir konnten sie nicht hören, wir konnten sie nicht sehen. Doch das ist für den Moment ihre Stimme." Die Darstellerinnen verbeugen sich nicht. Sie bleiben wie verzweifelt und festgefroren auf der Bühne zurück, bis auch der letzte Zuschauer den Raum verlassen hat. Jeder muss ganz dicht an ihnen vorbei. Ein leises und beeindruckendes Ende.



In a thousand pieces
von The Paper Birds
Von und mit: Jemma Mc Donnell, Elle Moreton, Kylie Walsh, Musik: Shane Durrant.

www.ruhrfestspiele.de
www.thepaperbirds.com


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