Mein Gott, Jopie

von Otto Paul Burkhardt

Stuttgart, den 11. Juni 2009. Mit seinen 105 Jahren ist er dem Himmel schon sehr, sehr nahe. "Gott der Herr" im "Jedermann" scheint da die passende Rolle für Johannes Heesters zu sein. Die verkörpert er jetzt rund sechs Wochen lang jeden Abend (außer sonntags) im Alten Schauspielhaus Stuttgart.

Dazu hat er sich mit seiner Frau extra eine kleine Wohnung in der Stadt gemietet. Zu den vor ihm liegenden Sechs-Tage-Wochen bis 24. Juli als Gott vom Dienst sagt er trocken: "Das halte ich durch." Obwohl er gebrechlich ist, schlecht zu Fuß und annähernd blind, fühlt er sich manchmal noch wie 99", scherzt er gerne. Vor allem, wenn er in einem Nobel-Cabrio gemeinsam mit Model Gina-Lisa Lohfink durch Berlin düsen darf – zumindest in einem Werbefilmchen für einen Autoverleih. Da singt Jopie sogar: "Ich brauche keine Millionen."

Heesters selbdritt

Und jetzt als Gott? Wie soll das gehen? Mit Zylinder und Seidenschal? Als Gute-Laune-Operetten-Methusalem? Als Charmeur im Showhimmel? Oder als begafftes 105-jähriges göttliches Schauspielerwunder? Nein.

In Klaus Hemmerles anfangs leicht umgebauter "Jedermann"-Inszenierung ist Heesters nicht nur "Gott der Herr" höchstselbst, sondern auch "ein armer Nachbar", der von einer Parkbank aus den reichen Jedermann um Geld bitten wird. Und drittens spielt da eben auch immer Heesters mit, das "alte Zirkuspferd". Wir sehen also eine Art Dreieinigkeit: Gottvater, armer Nachbar und unverbesserlicher "Jopie".

Regisseur Hemmerle beginnt seinen "Jedermann" nicht völlig ironiefrei: Denn Heesters trägt, so mahnend das Stück auch daherkommt, trotzdem einen weißen Anzug. Und prompt rast ein schwarzes Edel-Cabrio auf die Bühne – kleiner Scherz mit Blick auf erwähntes Werbefilmchen. Doch damit hat die Regie gleich alles naheliegend aktualisiert: Dem Sportflitzer entsteigt Jedermann, und der ist selbstredend ein schnösliger Jungbanker (Matthias Hermann).

Alte Schule erprobt Neues

Alsbald mutiert Heesters vom armen Nachbarn zum strafenden Gott, der das Trachten der Kreatur allein auf "irdisch Gut" anprangert – ein schauspielerisch gewaltiges, immer wieder neu ansetzendes Crescendo: "In Sünd ersoffen, das ist, was sie sind!"

Man muss diesen Heesters nicht mögen: Aber mit 105 Jahren kann der Mann noch immer alle Register ziehen, den staunenden armen Nachbarn geben ("Boooh!") und Sekunden später den stöhnenden Gott ("Achchch!"), leise grollend bis feurig wetternd. Ganz die alte Schule. Aber richtig dosiert, wirkt es noch immer.

Heesters, der alte Dandy, erprobt in hohem Alter nochmal was Neues: das ernste Fach. Dass er unter den Nazis Karriere gemacht hat, bestreitet er nicht, doch den Vorwurf, nach einem (nicht ganz freiwilligen) Besuch im KZ Dachau auch noch für die SS gesungen zu haben, will er nicht auf sich sitzen lassen.

Das war’s. Der alte Mann steht auf und schlufft von der Bühne, gestützt und begleitet vom Tod, der in Stuttgart eine junge Frau ist (Lisa Charlotte Friederich). Heesters hat in seinem Teilzeitjob als Gott bereits Routine: Schon 2004 war er als solcher in einem Freiluft-"Jedermann" auf dem Kölner Domplatz zu Gange, wo er am Schluss sogar noch einen Choral sang. Hier im Alten Schauspielhaus Stuttgart singt er nicht und erscheint erst wieder zum Schlussapplaus, den er erhobenen Hauptes entgegennimmt.

Nach Gott nur Solidität

Mit diesem Spielplan-Clou wertet der scheidende Intendant Carl Philip von Maldeghem seine letzte Premiere am Alten Schauspielhaus auf, das zusammen mit der Komödie im Marquardt auf jährlich 200 000 Zuschauer kommt – als leichtere, unterhaltsamere Alternative zum ambitionierten Staatsschauspiel Stuttgart. Mit seinem "Jedermann"-Finale stimmt sich von Maldeghem schon auf Salzburg ein, seine künftige Wirkungsstätte – er wechselt ans dortige Landestheater.

Und nach Gottes Auftritt? Folgt eine brave, versmaßklappernde, solide, wenig überraschende "Jedermann"-Inszenierung. Klaus Hemmerle fährt alles auf, um "Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes" zu einer Allerweltsmischung aufzuhübschen, zu einem bankenkrisenkritischen, sinnenfreudigen, schaurig-schönen, mit Monteverdi und Pink Floyd grundierten, moritatenhaften Stück Volkstheater. Das schicke Cabrio taucht, als es ans Sterben geht, wieder auf: als Wrack mit Totalschaden, verursacht offenbar vom Banker Jedermann. Der hat jetzt Todesangst und steht von nun an im (Bühnen-) Regen.

Und Heesters? Ein bisschen hat sein Auftritt auch etwas von einer Kuriositäten-Schau – der älteste praktizierende Schauspieler der Welt. Aber Jopie macht das gerne. Zeigt noch mal allen, dass er auch anders kann, wenn es ernst wird. Und so schließen wir mit einer Mischung aus Kopfschütteln, ungläubigem Staunen und ein bisschen Schauder: Mein Gott, Heesters.

 

Jedermann
von Hugo von Hofmannsthal
Regie: Klaus Hemmerle, Bühnenbild: Andreas Wilkens, Kostüme: Sibylle Schulze.
Mit: Johannes Heesters, Lisa Charlotte Friederich, Matthias Hermann, Armin Jung, Helge Vögler, Wolfram Grüsser, Linda Sixt, Birthe Gerken, Reinhart von Stolzmann und Oliver Krämer.

www.schauspielhaus-komoedie.de

 

Kommentare  
Heesters in Stuttgart: höhere Ironie (ohne Absicht)
Das ist ja schon höhere Ironie, daß Ihr ausgerechnet einen Tag nach dem viel zu frühen Tod von Gosch ein Stück besprecht, wo der nahezu unsterbliche Heesters mitspielt.
Heesters in Stuttgart: Kritik ist nichts mehr wert
ich vermute, die aktion dient auch nur wieder dazu, den umgang mit den großen aufführungen zu ironisieren. wenn jetzt nach den provinzaufführungen, auch noch johannes heesters besprochen wird, dann ist entweder die kritik bald nichts mehr wert, oder es gibt keine großen aufführungen mehr. aber dann klickt auch niemand mehr nachtkritik an. überlegen Sie sich das gut, meine herren.
Heesters in Stuttgart: wie Fernsehen
P.S. die provinz aus der rolle der provinz zu entlassen ist eine zweischneidige sache. sie weiß dann vielleicht nicht mehr, ob der ganzen "aufwertung", was sie spielen soll. das ist dann wie fernsehen. da kommt mittlerweile auch jeder vor.
Heesters in Stuttgart: wahrhaftig grell
Zuschauerkonferenz im "CT":
Wer war die "blonde Bloggerin", die "Oma" aus dem mikatsch-plüschigem Sprachschatz ? Das waren heisse Teile. Nachdem die Mikat in der NACHTKRITIK (Cosmic fair)aus scheinbar nahestehend eigenen Reihen als Duettintendatin des CT gehypt wird,prickelt der angesprochene E-Mail-Dialog besonders wahrhaftig
grell.
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