Was brauchen wir die Dichtung?

von André Mumot

Kassel, 20. Juni 2009. Dass Elfriede Jelinek in Paula Wessely alles gesehen hat, was an einer Schauspielerin künstlerisch und menschlich verderbt sein kann, weiß man ja. Deshalb tritt sie bei ihr auch als abscheulich eitle Volksverführerin, als "Erlkönigin" auf und macht gleich klar, dass ihr die Theaterautoren gestohlen bleiben können: "Die Dichter müssen immer erst schauen, wie die Menschen sich verhalten. Dann erst können sie über sie schreiben. Da schreibe ich mich gleich selbst!"

Zweimal hat sich Elfriede Jelinek an der österreichischen Duse und Nazi-Mitläuferin abgearbeitet. Zuerst 1985 in "Burgtheater", dann noch einmal in "Macht Nichts" von 1999. Da ist die Diva eigentlich schon tot, aber nicht kaputt zu kriegen und äußert in einem langen Monolog lauter garstige Sachen, mit denen sie sich nicht nur selber entlarvt, sondern auch das nach Identifikation hungernde Publikum: "Ich zeige dem Volk, wie eine Frau aus dem Volk ist. Wie eine Frau aus dem Volk spielt, dass sie eine Frau aus dem Volk ist, damit das Volk selber immer wieder sich selbst dienstbar gemacht wird."

Haushalt mit Gartenzwerg und Jagdgewehr

In diesem pointenstarken Text, der - auch ganz unabhängig vom Wessely-Mythos - sehr unangenehme Wahrheiten über das Verhältnis von Zuschauern und Schauspielern auf den Punkt bringt, ist die Jelinek ganz auf der Höhe ihrer Kunst. Und wie jüngst für "Rechnitz", hat sie auch für "Macht Nichts" den Mülheimer Dramatikerpreis bekommen. Dass es jetzt im Staatstheater Kassel in neuer Inszenierung auf die Bühne darf, kommt also gerade recht.

Zwei Frauen und zwei Männer treten auf leerer Bühne vor schwarze Notenständer und beginnen das Erlköniginnen-Parlando mal abwechselnd, mal chorisch verbunden, vom Blatt zu lesen, dann wieder frei zu sprechen. Nach einer Weile aber schleppen sie Stellwände herbei, die mit fünfziger-Jahre-Tapete bespannt sind, schieben Herd und Küchentisch und Couch nach vorn und holen sich dann die dazu passenden Dekorationen: Gartenzwerg und Bierkiste, Klatschmohn-Gemälde, Jagdgewehr und Kartoffelkochtopf. Und während sie so die bizarre Parodie eines deutschtümelnden Heile-Welt-Haushalts errichten, hören sie keinen Moment lang damit auf, einträchtig ihre Tiraden von sich zu geben.

Drei Wiedergänger und der Tod

Dieses von Regisseur Marcus Lobbes virtuos organisierte szenische Multitasking ist unwiderstehlich gehässig und rasant. Allerdings besteht "Macht Nichts" insgesamt aus drei Szenen. In diesem Fall muss man wohl sagen: leider. Nummer zwei, "Der Tod und das Mädchen", stellt einen schwer zu durchschauenden Diskurs über die relativen Werte von Schönheit und Wahrheit dar – ausgetragen von Schneewittchen und dem Tod persönlich.

Auch diesen massiven Schwall aus kapriziösen Verklausulierungen sprechen Eva-Maria Keller, Agnes Mann, Björn Bonn und Jürgen Wink zu viert, und zwar so schnell und atemlos wie möglich. Dazu kostümieren sie sich alberner Weise als Lutscher lutschende Proletin, als Streifenpolizist mit platinblonder Deppenperücke oder Jogginghosenträger mit herausquellender Schamhaar-Attrappe. Das Ablenkungsmanöver funktioniert, das Gelächter ist groß, das Gesagte irgendwann nur noch ungefähres Geräusch.

"Der Wanderer" schließlich, letzter Teil und zerbrechlich intimer Gedankengang eines verwirrten alten Mannes, der von den Nazis missbraucht wurde und noch dazu als Portrait von Jelineks eigenem Vater fungiert, wird ganz zur abstrakten, schon akustisch unverständlichen Deklamation. Niemand, der den Text nicht selbst gelesen hat, wird hier noch verstehen, was die Figuren umtreiben mag. Völlig ruhig und ohne Aggression murmeln sie aneinander vorbei, reißen die Tapeten ein, stürzen die Möbel um und dann die Wände. Schließlich hocken sie erschöpft in einem Schlauchboot inmitten ihrer Trümmerlandschaft und verstummen, ohne sich mitgeteilt zu haben.

Nicht zum Kern durchgelassen

Alle drei Bilder (das Aufbauen der trügerischen Fassade, das schrille Kostümfest und das trauervolle Einreißen der Scheinidylle) illustrieren durchaus stimmig, wovon Jelineks Trilogie erzählt. Das eigentliche Mittel der Autorin, ihre Sprache, wird in der zweiten Aufführungshälfte aber vom Zuschauer bewusst ferngehalten, und damit auch die Möglichkeit zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Als wolle man sagen: Papier mag ja geduldig sein - aber das Publikum?

So fällt sich der Abend schließlich selbst in den Rücken. Denn hier, wo nur Aktion bleibt und der reine Klang der Schauspielerstimmen, behalten nur die Worte der Erlkönigin die Oberhand: "Was brauchen wir die Dichtung? Auch so eine Papierwindel mit Plastikkern, die nichts durchlässt."

 

Macht Nichts. Eine kleine Trilogie des Todes
von Elfriede Jelinek
Regie: Marcus Lobbes, Ausstattung: Pia Maria Mackert, Dramaturgie: Michael Volk. Mit: Eva-Maria Keller, Agnes Mann, Björn Bonn, Jürgen Wink.

www.staatstheater-kassel.de

 


Mehr zu Marcus Lobbes? Im November 2008 hat er in Mannheim Romeo und Julia inszeniert. Felicia Zellers Kaspar Häuser Meer, das Lobbes in Freiburg uraufgeführt hat, war 2008 bei den 33. Mülheimer Theatertagen zu sehen. Die Inszenierung ist mittlerweile vom Maxim Gorki Theater Berlin übernommen worden.

 

Kritikenrundschau

Einen "Texttriathlon der Ironman-Kategorie" hätten die vier Schauspieler und ihr Publikum in Kassel mit Elfriede Jelineks "Macht nichts" zu absolvieren, was am Ende "mit tosendem Applaus minutenlang gefeiert" worden sei, berichtet Bettina Fraschke in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (22.6.). Marcus Lobbes' "intelligent gestalteter Abend" lasse Agnes Mann, Björn Bonn, Eva-Maria Keller und Jürgen Wink die "massigen Textmonolithe" "abwechselnd oder im Chor, konzentriert oder frech" sprechen. Ein rosa Plastikschwein gebe dann den "Startschuss für ein schrilles Spektakel: Im Sprechen tragen die vier pausenlos Requisiten herbei und bauen eine Spießerwohnung auf. Häkelkissen. Stehlampe. Herd. Alpenpanorama. Staubwedel. (...) Immer schneller deklamieren sie, lesen von Blättern ab, die sie auf den Boden pfeffern." Das sei ein "Experiment auch für die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Worauf achten im gewollten Konzentrationsstörfeuer, gegen das sich der perfekt gebaute Text behauptet?" Da werde im Publikum "viel gelacht, gestöhnt und gestaunt – ebenso wie bei den schweißüberströmten Schauspielern steigt und sinkt auch hier die Erregungskurve".

 

 

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