Spur der Steine

von Georg Kasch

Nürnberg, 20. Juni 2009. Wie verbildlicht man die Hölle? Kann Literatur, kann Theater das größtmögliche Grauen, die Shoah, erfassen? Peter Weiss ist es 1965 gelungen in seinem Doku-Drama "Die Ermittlung". Das "Oratorium in 11 Gesängen" schildert den Frankfurter Auschwitzprozess 1963 bis 1965, und berichtet mit diesem Kunstgriff über das Unvorstellbare so überzeugend wie kein anderer Bühnentext.

Wie aber stellt man diese peinigenden Zeugenaussagen, wie die unerträglichen Reaktionen der Angeklagten dar? Jede Illustration wirkte zu schwach, ja lächerlich – das unabwendbare Grauen kann nur im Kopf entstehen. Statt konkreter Szenen eröffnet Kathrin Mädler in Nürnberg deshalb vor allem atmosphärische Räume. Sie nimmt das Publikum mit in die Tiefen eines Unorts: den monumentalen Torso der 1937 dem römischen Kollosseum nachempfundenen Kongresshalle auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände.

Eroberung monströser Räume

Seit das Schauspiel des Staatstheaters vor einem Jahr im Kopfbau der Kongresshalle seine umbaubedingte Ersatzspielstätte aufschlug, müht es sich mit dem Thema "Schuld" und dem ungeliebten Standort ab. Viele Inszenierungen gelangen – die Komödie "Die Ruhe vor dem Sturm", die Farce "Enigma Emmy Göring", auch Speer und besonders der Lessing/Tabori-Doppelabend Die Juden/Jubiläum. Aber keine Produktion erobert die monströsen Räume so entschieden und gewinnbringend wie nun Mädlers Inszenierung von Weiss' Höllenfahrt.

Zur "Inferno"-Reise (Weiss orientierte sich an Dantes "Göttlicher Komödie") drängt sich das Publikum an einer Rampe; mit dem Lastenaufzug nahen die fünf Boten aus einer anderen Welt in weißen Anzügen und Gummistiefeln, sprechen: "Wir sind nicht die wirklichen Zeugen." Dann reden sie wild durcheinander, als wäre der Leidens-Druck übergroß und das Sprechen einzige Erleichterung. Wie sterile Kittel werfen sie sich von nun an die Rollen der Zeugen und Angeklagten, des Richters, des Anklägers und des Verteidigers über, übernehmen sie chorisch, dann wieder neutral, sachlich, auch naiv.

Nach dem "Gesang von der Rampe" locken sie das Publikum über Stiegen und durch Gewölbe zum scheinbar endlos gekrümmten, saalhohen Korridor. In einem der Foyers zu den nie fertiggestellten Tribünen liegt Mulch auf dem Boden, stehen sich die Stuhlreihen gegenüber. Hier sitzen vier der fünf Männer zunächst zwischen den Zuschauern; auch auf der vierten Station mischen sie sich unters Volk. Beim "Gesang von der Möglichkeit des Überlebens" tänzeln sie wie turnende BDM-Mädel über den Mulch und berichten im fröhlich-federnden Ton vom Lagerleben.

Die Bilder pulsieren im Kopf

Für den "Gesang von der schwarzen Wand" wird das Publikum geteilt und in zwei enge Seitenräume gezwängt, spärlich beleuchtet von einer einzigen Glühbirne. Vor den Eingängen stehen die Schauspieler, lesen die Verhördialoge abwechselnd vom Blatt und verstärken allein durch ihre Anwesenheit den Eindruck von Enge und Isolation. Unheimlich zudem, wie von der Nachbarzelle die Doppelung der Worte hallt.

Sicher, es gibt Einwände. Weil die Worte des Richters, des Anklägers und des Verteidigers miteinander verschmelzen, gehen der schamlose Zynismus des Verteidigers und die oft beleidigende Naivität des Richters verloren. Auch bricht Mädler das anti-illusionistische Sprechen immer wieder mit Situationen, in denen die Schauspieler Charaktere verkörpern – und meistens scheitern. Mäkeleien wie diese aber verstummen vor der Wucht der Nürnberger Höllenfahrt. Mädlers zweistündiges "Ermittlungs"-Konzentrat zerrt an den Nerven, geht an die Nieren, schlägt auf den Magen: Die Bilder – von Ratten angefressene KZ-Häftlinge, von Aufsehern zerschmetterte Kinder, Menschen, die im Gas-Todeskampf zu kratzenden, beißenden Tieren werden – pulsieren im Kopf, lassen auch jetzt, Stunden nach dem Ereignis, nicht los.

Verstreuen der Asche im Fluß

Während des "Gesangs von der Schaukel" verlässt eine Zuschauerin mit Brechreiz den Spielort, anderen sieht man die Erregung, die Verzweiflung, den Ekel an. Übelkeit ist an diesem Abend nichts, wofür man sich schämen müsste. Am Ende, beim "Gesang von den Feueröfen", wird der gigantische Korridor von einem Seil geteilt: Hier das Publikum, eine Masse der Geschworenen, dort die Fünf, die sich mehr und mehr entfernen, während sie von der finalen Vernichtung, vom Verstreuen der Asche im Fluss berichten. Noch einmal messen sie, staunend fast, den Raum mit ihren Blicken aus, dann verschwinden sie hinter der Krümmung.

Zurück bleibt ein Publikum in jenen Räumen aus geweißeltem Backstein, die nach dem Krieg der Quelle AG als Lager dienten. Das Versandhaus, jetzt vor der Pleite, profitierte im Dritten Reich wie so viele Unternehmen von der "Arisierung", von der im Nachkriegsdeutschland niemand wissen wollte. Weiss' Erkenntnis, dass die deutsche Wirtschaft schamlos von den Konzentrationslagern profitierte und ihre personellen und organisatorischen Linien bis in die Gegenwart führen – in der Nürnberger Kongresshalle erzählen die Steine davon.

 

Die Ermittlung
Oratorium in fünf Gesängen von Peter Weiss
Konzept und Regie: Kathrin Mädler.
Mit: Thomas L. Dietz, Heimo Essl, Jochen Kuhl, Stefan Lorch und Jan Ole Sroka.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Mehr lesen? Im Kontext des Spielzeitmottos "Schuld" inszenierte Frank Behnke in Nürnberg im Februar 2009 den Doppelabend Die Juden/Jubiläum von Lessing und Tabori. Im gleichen Monat kam auch Alexander Mays Abend Speer nach einem Stück von Esther Vilar heraus.

 

Kritikenrundschau

"Eine so beklemmende Aufführung wie die von Kathrin Mädler" war in dieser Nürnberger Spielzeit "bislang nicht zu sehen", berichtet Olaf Przybilla in der Süddeutschen Zeitung (22.6.2009). "Entziehen kann sich diesem Stationenweg keiner." Denn "es gibt Sätze an diesem Abend zu hören, die so kalt und präzise gesprochen sind, dass man sie nicht mehr vergessen wird".

Kathrin Mädler habe für ihre Nürnberger Inszenierung der "Ermittlung" von Peter Weiss "mit dem Bogengang rund um die Kongresshalle per se den richtigen Ort", schreibt Katharina Erlenwein in den Nürnberger Nachrichten (22.6.2009): "Weil es der ist, an dem die NS-Täter ihre Macht demonstrierten, denkt man. Doch nach dem theatralischen Rundgang ist klar: Weil es einfach ein hässlich-kalter, abweisender Ort ist, zwischen dessen schmutzigen Ziegelwänden man Folterbunker, Elend, Licht- und Würdelosigkeit erahnen kann." Die Regisseurin halte sich zurück und gewinne dadurch: "Kein Regie-Einfall drängt sich in den Vordergrund, alle Aktion ist dem Text untergeordnet und dient dessen bloßer Verstärkung. Grandios die Schauspieler, die mit kleinen Gesten, einem Hauch von Ironie (als Täter) oder einem Anflug von Wut (der Opfer), aber betont sachlich von Dingen berichten, die man schon beim Zuhören nur schwer erträgt."

Auch für Hans-Peter Klatt von der Nürnberger Zeitung (22.6.2009) schält sich im Verlauf von zwei Stunden "der monströse Nazibau als Hauptdarsteller heraus. Regisseurin Kathrin Mädler hat diese einmalige Chance für einen Text über die schlimmsten Naziverbrechen geschickt genutzt, ohne die Gelegenheit überzustrapazieren." In einigen Szenen brächten "die weißgekleideten Darsteller das Publikum mit einfachen Sätzen an den Rand des Erträglichen. Der millionenfache Mord, sonst als abstrakte Zahl vielleicht nur zur Kenntnis genommen, ist in der Detailaufnahme ein grauenvoller Eindruck." Nachhaltiger und tiefgreifender könne "ein Beitrag zum aktuellen Spielzeitmotto 'Schuld' nicht sein".

Dieter Stoll von der Nürnberger Abendzeitung (22.6.2009) erinnert daran dass bei der bisher einzigen Nürnberger Aufführung 1966 die "Ermittlung" als "Frontal-Lesung vorgeführt" wurde. Kathrin Mädler wage mit dem Gang ins Innere der Kongresshallen-Ruine "nun den Ausbruch aus der Doku-Zeremonie. Sehr riskant, aber klug und mutig." Die Inszenierung ende "nach zwei Stunden mit einer atemverschlagenden Metapher. Da hatten die fünf Gestalten, die als Projektionsfiguren aller ungeheuerlichen Original-Zitate durch verwunschene Räume des Nazi-'Kolosseums' geleiteten, an eine Absperrung gebeten. Dort, wo sie letzte, schlimmste Erinnerungen ans KZ-Grauen aus den Prozess-Mitschriften vermittelten, verschwanden sie dahinredend allmählich in der Weite der Gänge – so verblassend im Gewölbe wie der niederschmetternde Teil der deutschen Geschichte, den man doch so gern vergessen möchte."

Bernd Noack war nach der Premiere, wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.6.2009) schreibt, mitgenommen und ergriffen: "Ausgerechnet in dieser Ruine des Größenwahns, diesem nie fertiggestellten Forum der Demagogie, das gedacht war für die Gehirnwäsche von bis zu 50.000 Treudeutschen, treten aus den Geschichten, Erinnerungen und protokollierten Schicksalen die Opfer wie lebendige Schatten heraus und begleiten und verstören jetzt die Zuschauer, die ihnen folgen müssen bis über die Grenzen des Fass- und Begreifbaren hinaus." Wobei die Inszenierung von Kathrin Mädler den Bezug zum Ort künstlerisch keineswegs ausspiele und sich auf ihn verlasse. Er sei vielmehr bloß die "ideale", "abweisende Kulisse". Das "Wechselspiel der Lügen und Gewissheiten", das dem Zuschauer auf seinem Weg durch den Bau von "anonymen", immer die Rollen wechselnden Figuren präsentiert wurde, ziehe ihn hinein "in die Bestandsaufnahme des menschlichen Versagens" und mache ihn zum "Mitangeklagten in einer Verhandlung, in der es immer noch gegen ihn und seinen Stolz auf seine Gattung ging".

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