Im Busch

21. Juni 2009. Ich hatte einen Großonkel, der im Jahr 1912 von einer Bremer Handelsgesellschaft nach Kamerun geschickt wurde, um in der Hauptstadt Yaundé, die man damals noch Jaunde schrieb, weil Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft stand, die Leitung der afrikanischen Vertretung der Gesellschaft zu übernehmen. Der Onkel wurde sehr alt, fast hundert nämlich, weshalb mir seine Schilderungen des afrikanischen Kapitels in seinem Leben noch ausgesprochen lebhaft in Erinnerung sind: zwei Jahre, die am Ende seines Lebens fast den gesamten Raum seines Gedächtnisses eingenommen hatten.

Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges musste er zurück nach Deutschland, vor dessen Bedrückungen er doch bis kurz vor den Äquator zu entkommen versucht hatte.

Bis heute sehe ich ihn im Osnabrücker Haus meiner Lieblingstante, die seine Tochter war, sitzen, wo er als alter Mann zwei große Zimmer bewohnte: vor einem monumentalen Bücherschrank aus Eichenholz, auf dem neben einer klassizistischen Marmorbüste Goethes auch mehrere vergilbte, riesige Elefantenstoßzähne und afrikanische Masken standen. Auf dem Boden lagen über schweren Orientteppichen die Felle afrikanischer Rinder und auch ein Löwenfell, soweit ich mich erinnere. Und wenn ich zu Besuch war, dann liebte ich es, auf einem, mit merkwürdig archaischen Mustern verzierten Hocker zu Füßen des alten Mannes zu sitzen, und seine afrikanischen Geschichten zu hören.

Heute fällt mir vor allem ein, wie er von seinen Dienstreisen ins Landesinnere Kameruns erzählte, in das es in jenen Jahren noch keine Verkehrswege gab, weshalb die Kolonialherren dorthin durch den Busch auf Sänften transportiert wurden, die von Menschen getragen werden mussten, die man damals die "Eingeborenen" nannte, von Kamerunern also.

Und der Onkel, der ein gebildeter Mann war und die deutsche Klassik auswendig konnte, vertrieb sich, und wie er glaubte, auch die Zeit derer, die ihn trugen, damit, dass er oben auf seiner Sänfte Goethes Faust oder anderes einschlägiges deutsches Bildungsgut rezitierte und den Eingeborenen, den sogenannten, kund und zu wissen gab.

Besonders liebte er es, auf diesen Reisen durch den afrikanischen Busch Goethes Flüchtlingsepos über eine Liebesgeschichte in den europäischen Nachwirren der französischen Revolution, "Hermann und Dorothea" zu deklamieren, und bis heute höre ich seine alte, kraftlose Stimme noch daraus die brüchigen Verse zitieren: "Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts/ Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten."

Darin er auch sein Lebensgefühl kurz vor Ausbruch des Krieges ausgedrückt fand, ohne dass er je einen Sinn dafür entwickelt hätte, dass dieser Krieg irgendetwas mit dem jungen Mann zu tun haben könnte, der Goethe zitierend auf dem Rücken von Afrikanern durch die Wildnis getragen wurde, die er doch selbst als Befreiung von der repressiven wilhelminischen Welt empfunden hatte, und nun Afrika dafür mit Goethe etwas zurückzugeben glaubte.

Das Bild vom Goethe zitierenden Onkel auf der Sänfte fiel mir jetzt angesichts der Entscheidung der Bundeskulturstiftung wieder ein, das Projekt von Christoph Schlingensief zu fördern, ein Festspielhaus in Afrika zu errichten. "Ein Haus, das afrikanische und europäische Kulturen verbindet und so zu einer Erneuerung der totgespielten Oper führt. Und ein Gedanke, der den krebskranken Schlingensief mit Lebensenergie füllt," wie es auf der entsprechenden Internetseite heißt. Als Standort im Gespräch ist Kamerun, wie man hört. Oder vielleicht auch Burkina Faso, eines der ärmsten Länder der Welt.

(sle)

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