Lebenslauf als loses Netzwerk

von Irene Grüter

Mai 2006. Der niederländische Regisseur Paul Binnert und seine Amos-Oz-Inszenierung "Allein das Meer" am Thalia Theater Halle.

Wie kommt man auf die Idee, einen solchen Text zu dramatisieren? "Allein das Meer" von Amos Oz enthält kaum Dialoge, erzählt lyrisch und aus verschiedenen Perspektiven. Ein lose verknüpftes Netzwerk von Lebensläufen - denkbar ungeeignet für das Theater, sollte man meinen. Paul Binnerts sieht das natürlich anders: "Da ist ganz viel Tschechow drin“, sagt der niederländische Regisseur. Die meisten Figuren bei Oz sind Zweifler, Sinnsucher, die lieben, ohne auf Gegenliebe zu stoßen. Auch ein selbstsicherer Neureicher ist darunter, der statt dem Kirschgarten einen Orangenhain abholzen will, um Bauland zu gewinnen. Einen wirklichen Schluss gibt es nicht, denn das Leben wird ohnehin so  weitergehen wie bisher. Tragikomisch, unspektakulär, manchmal ein wenig sentimental. "Beim Lesen spüre ich zuerst die Handlungsstränge heraus", sagt Binnerts, der gerne bestehende Stoffe bearbeitet. "Im zweiten Schritt stellen sich die Bilder ein. Wenn ich anfange zu schreiben, muss ich den Roman auswendig können." Es ist bereits der zweite Text des israelischen Autors, den er für die Bühne adaptierte; mit "Black Box" wurde er im Jahr 2000 an die Biennale in Bonn eingeladen. Das war der Anfang seiner zweiten Laufbahn am deutschen Theater – die erste spielte sich im Frankfurt der 70er Jahre ab, als er das Konzept des epischen Theaters ergründete. "Das ist ja schon 35 Jahre her", sagt er erstaunt, fast belustigt. Brecht habe seinen Zugang zum Theater wesentlich geprägt, auch wenn er heute nicht mehr glaubt, dass die Bühne direkte politische Bezüge braucht, um sich auf die Gegenwart zu beziehen. Auf die Zeit in Frankfurt geht die erzählende Spielweise zurück, die er als "Acting in real time" bezeichnet: Der Schauspieler soll sich als Instrument auf der Bühne offenlegen und seine Bewertung der Figur ins Spiel einbringen.

Nun wird klar, warum dem Regisseur die Texte von Oz entgegenkommen – auch einer, der die Mittel sichtbar macht, indem er den Autor in den Roman einschreibt und die Figuren wissen lässt, dass sie Teil einer unvollkommenen Geschichte sind. Beim Theatertreffen ist Binnerts nicht zum ersten Mal; vor vier Jahren leitete er einen Workshop im Internationalen Forum. Ein Teilnehmer holte ihn später als Dramaturg nach Halle – mit der Einladung nach Berlin schließt sich der Kreis. "Es ist schön zu wissen, dass meine Arbeit angenommen wird", sagt der Regisseur, der heute in Amsterdam und New York lebt und unterrichtet. Gerade für einen Theatermacher, der aus der freien Szene kommt, ist diese Anerkennung wichtig, denn in Holland entscheiden Komitees über das Sponsoring von Projekten. Manchmal komme er sich dort vor wie in der Schule, doch nach über 70 Inszenierungen nimmt er es gelassen: "Ich habe früh gelernt, mit wenigen Mitteln zu arbeiten. Das hat viele Vorteile."

 

Zuerst erschienen in der Festivalzeitung des Berliner Theatertreffens 2006, als Beilage der Berliner Zeitung am 20. Mai 2006.

 

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