Die Gattung Mensch an sich

Erfolgreicher Volkstheater-Trash im Kiez. Eine Systemerkundung

von Esther Slevogt

Berlin, Dezember 2006. Die Perücken sind billig und die Outfits schrill. Wichtigstes Bühnenrequisit ist ein gammeliger Dönerspieß aus Pappmachée. Ansonsten wird vorzugsweise vor einer scheußlichen Fototapete gespielt – eine Kulisse, die selbst Schlingensief-Bühnen wie Nachbauten aus dem Schöner-Wohnen-Katalog aussehen lässt.

Auch die knalligen Spieler der aus dem prallen Kiezleben gegriffenen Theatersoap "Gutes Wedding, Schlechtes Wedding" des "Prime Time Theaters" erfüllen nicht unbedingt die Anforderungen, die man gemeinhin an die Schauspielkunst stellt. Sie chargieren, dass sich die Bretter der winzigen Bühne im Berliner Bezirk Wedding biegen, lassen kein Klischee aus und haben meist gleich ein halbes Dutzend Figuren zu verkörpern.

Oliver Tautorat zum Beispiel, der gleichzeitig den breit grinsenden, haargel- und handyversessenen Dönerlieferanten Murat, die füllige türkische Obermatrone und Horrormatriarchin Hülia, einen griechischen Psychoanalytiker namens Dr. Philantropulos, das türkische Potenzwunder "Der Tiger vom Wedding", oder den Superproll Kalle spielt. Vor Beginn der Vorstellung (primetime-gemäß um 20.15 Uhr) steht Tautorat auch an der Kasse, und sortiert später feixend das zahlreich erschienene Publikum in die engen Stuhlreihen seines kleinen Theaters ein, dessen Flair insgesamt zwischen Sozialamt und Jugendclub changiert.

Kieztussi, Ghettoschlampe und die anderen

Oder die schöne Constanze Behrends, die mit dem gleichen hingebungsvollen Mut zur Hässlichkeit die naive Kieztussi Nicol, Ghettogirl Eische oder die sächselnde Schreckschraube Heidemarie Schinkel mimt, ihres Zeichens Weddinger Arbeitsamtsleiterin und Gattin von Onkel Achmed, dem schmächtigen Inhaber einer piefigen Dönerbude. Der wiederum wird dargestellt von Alexander Ther, der ausgesprochen überzeugend gleich eine ganze Reihe türkischer Biedermänner spielt, denen zwischen Integrationsüberforderung und weiblicher Übermacht daheim gelegentlich die Puste ausgeht. Und dann ist da noch Jenny Bins als Kiezschlampe Sabrina aus dem Gesundbrunnen-Center, womit zumindest grob das Personal umrissen wäre, von dessen Alltag im Clash der Kiezzivilisationen Deutschlands einzige Theatersoap erzählt.

Alle vier Wochen gibt’s eine neue Folge – im Alleingang stets von Constanze Behrends verfasst, und zwar mit scharfem Gehör für Dialekte, für authentische Töne und verlogene Tremolos, fast ethnologischem Gespür für Milieus und einem ebenso präzisen wie warmherzigen Blick auf die Gattung Mensch an sich. Die Ergebnisse dieser Studien am lebenden Weddinger werden vergröbert, auf Comedyformat aufgezogen und als schräge Sitcom präsentiert.

Krachlederne Konsequenz

Das Wunder dieser inzwischen weit über vierzig Theaterabende ist immer wieder, dass sie trotz des schrillen, zwischen Kabarett, Comedy und Volkstheater balancierenden Formats authentischer vom Leben, Lieben und Leiden der weniger Priviligierten in dieser Gesellschaft, von Arbeitslosen, Migranten und waschechten Proleten erzählen können als manche Bühne, die sich zu deren hoch subventioniertem Sprecher berufen fühlt, um dann aus den Höhen der Kunst auf sie herabzublicken.

So ziemlich von Anfang an (also seit Januar 2004) ist das kleine Theater fast immer ausverkauft und erspielte sich mit seinen Geschichten rund um türkische Machos, bauchfreie Tussis, schrullige Emanzen, Ausländerfeinde, Spiesser und Proleten zunächst lange ganz ohne Subventionen Kultstatus in der Stadt. Erst fiel nur die eiserne Beharrlichkeit auf, mit der hier Monat für Monat die nächste Folge herauskam. Die Konsequenz, mit der hier jeder Kunst-Nimbus vermieden und stattdessen intelligentes aber prätentionsloses, krachledernes Volkstheater gemacht wurde und damit Leute ins Theater gelockt wurden, die sonst derartige Einrichtungen weiträumig umfahren. Inzwischen kommen heimlich sogar die Feuilletonisten. Seit kurzem gibt es jetzt auch Basisförderung für die Truppe, was nicht leicht durchzusetzen war. Erfolg und Nähe zum Publikum sind hierzulande schon immer verdächtig gewesen.

Alles begann mit Briefträger Kalle, einem berlinernden Lendenwunder mit Vokuhila-Frisur, und der verhärmten Arbeitsamtsberaterin Heidemarie Schinkel. Unter der wärmenden Sonne der Liebe des noch verhärmteren Dönerbudenbesitzers Ahmed zu ihr, steigt sie bald zur Chefin ihrer Behörde auf. Dann war da noch Teenie Nicol, die sich in Achmeds großspurigen Neffen Murat ("Isch versteh disch!") verliebt und alsbald Mutter von Hülia-Lisa wird – eifersüchtig beäugt und mit repressiver Fürsorge terrorisiert von Murats dominanter Mutter Hülia.

Schluß mit der Multi-Kulti-Idylle

Die Schaupieler ziehen immer ziemlich vom Leder. Besonders Oliver Tautorat liebt die Rampe und ist ein hinreißender Stimmenimitator, der den nuschelnden, jeden Satz mit "un so" einrahmenden Straßenton junger Türken ("voll krass, ey") ebenso virtuos beherrscht, wie den Slang BZ-lesender Icke-Berliner. Und trotzdem verstehen es die "GWSW"-Macher, zwischen den Zeilen ihrer comichaft-übertriebenen Darstellung feine Sozial-Studien unterzubringen. Zum Beispiel ganz nebenbei davon zu erzählen, wieso sich vereinsamte Weddinger Kleinbürgermädchen in testosterongesteuerte türkische Jungmachos verlieben. Und worin wiederum ihre Attraktivität für die türkischen Männer besteht. Wie hier zwei eigentlich grundverschiedene Kulturen und Mentalitäten plötzlich voneinander zu profitieren beginnen.

Dabei wird keiner Figur je etwas geschenkt, jede Schwäche in den manchmal ziemlich unwahrscheinlichen Wendungen der Soaphandlung ziemlich gnadenlos an die Rampe gezerrt. Schließlich sind wir hier im Volkstheater. Bloß denunzierend wird es im Primetime-Theater nie.

Aber eines Tages, es muss so um Folge 29 herum gewesen sein, ist dann fast Schluss mit der Multikulti-Idylle: denn über die böse Brücke dringt eine fremde, feindliche Macht in den Wedding ein, um das wilde, authentische Leben dort in blöde Kunstprojekte zu überführen. Die böse Brücke heißt eigentlich nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Wilhelm Böse und verbindet die Bezirke Wedding und Prenzlauer Berg. Dort aber wohnen die Prenzlwichser, die nicht mehr leben, sondern nur noch davon reden. "Geil", lässt Constanze Behrends einen von ihnen sagen. "Du trinkst deinen Latte und machst Kunst!"

Alberne Avantgarde

Das Grauen hat auch Namen und Gesichter, nämlich die von Claudio und Penelope. Das doof schwadronierende Künstlerpaar sucht im Wedding vier echte Hartz-IV-Empfänger, die es für eine Performance nackt vor den Reichstag stellen will. Standesgemäß trägt Prenzlwichser Claudio (wieder Oliver Tautorat) ein T-Shirt mit Volksbühnenlogo und Strickmütze. Wenn er redet, könnte man meinen, er habe seinen Projektantrag für die Bundeskulturstiftung auswendig gelernt. Auch von Penelopes Lippen (Jenni Bins) perlt lupenreine Theoriesimulation als gekonnte Pollesch-Parodie. Und plötzlich sieht die Avantgarde von einst ziemlich albern aus.

Seitdem mischen die Prenzlwichser immer wieder gehörig die Kiezkultur auf, und versuchen, die Macht zu übernehmen. Sie drohen mit taz-Zwangsabos und besonders mit Kulturproduktion. In ihrem Gefolge kommt später auch noch ein russischer Satanist namens Ronny Horror dazu, der eigentlich ein Zugereister aus einem westdeutschen Provinzkaff ist. Gelegentlich treten auch militante Emanzen oder totalitäre Umweltschützer auf den Plan und stören das soziale Gleichgewicht im Kiez empfindlich.

Doch der Weddinger an sich ist geduldig. Die hohlen Phrasen der Scheinurbanen quittiert er mit stoischem Unverständnis. Im Primetime-Theater sitzt er mit seinem utopischen Glauben an die Kraft des Normalen sowieso immer am längeren Hebel und bleibt am Ende der Sieger der Geschichte.

zuerst erschienen in Theater Heute 12/2006

 

www.primetimetheater.de

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