Der Frühaufsteher

von Tomo Mirko Pavlovic

20. Juli 2007. Es gibt Menschen, die sich wundern, wenn sie ein scheinbar herrenloses Badetuch auf einem adriatischen Liegestuhl Sekunden nach Sonnenaufgang sehen. Es gibt Menschen, die sich immer noch fragen, weshalb es ihnen niemals gelungen ist, ihren Namen an erster Stelle auf dem Seminaraushang für das neue Semester einzutragen.

Und es gibt Menschen, die sich wundern, dass bei manchen die Trauerzeit nach Hamlets Abgang kürzer sein kann als das Abreißen einer Theaterkarte. Der Vorhang fällt und schon klafft eine Lücke im Parkett. Kein Buh, kein Bravo. Und weg ist er: der Frühaufsteher.

Es gibt nun mal diese und es gibt jene. Jene: Das sind die wenigen, die mit einer funkgesteuerten Quarzuhr am rosigen Unterarm auf die Welt gefallen sind, mit den ungeduldigen Füßchen voraus, die alsbald fröhlich scharrten und trippelten, während diese, die anderen, noch ihren großen Zeh in den sabbernden Lachemund stopften. Den Verspäteten straft das Leben, heißt es, und auf der Bühne sowieso: Siehe Hamlet, der schlimmste aller Zauderer. Oder Wallenstein, der in die Sterne guckt, um der allzumenschlichen Erdenphysik zu entfliehen. Doch die Zeit ist gar nicht relativ, das weiß jeder Eierkocher - und unser Frühaufsteher. Der Anti-Hamlet hat instinktiv erkannt, dass das wahre Lebensdrama die Zeitverplemperei ist.

Also handelt er. Er lauert. Schaut auf die Uhr. Atmet flach. Bläht die Nüstern.  Berechnet den kürzesten Abstand zwischen sich und der Freiheit. Dann, endlich, wenn sich der Vorhang zwischen die allerletzte Szene und den ermatteten Zuschauer senkt, schlägt die Sekunde des Frühaufstehers. Schon steht er, rudert mit den Armen, verliert das Gleichgewicht, stützt sich in der Dauerwelle der Nachbarin ab, vergreift sich an Perlenketten und Schulterpolstern, nuschelt Entschuldigungen und hoppelt schließlich wie ein betrunkenes Gnu über Hühneraugen durch seine Reihe zur rettenden Tür, wo er sich noch einmal umblickt, den Triumph des ungefährdeten Zieleinlaufs genießend. Erster. Als erster bei der Garderobiere, als erster auf dem Weg zur Tiefgarage, sollen doch die anderen, die Ewiggestrigen, klatschen, fünf oder fünfzehn Minuten lang, selber schuld, draußen wartet ja das wahre Sein.

Das denkt sich unser Frühaufsteher und gewinnt bei fünfzig Theaterjahren mit, sagen wir, zehn Saisonvorstellungen geschätzte fünf Tage. Fünf Tage! Das ist wie eine Woche Urlaub vom Theater. Gehen statt Warten, Leben statt Sterben.

Der Rest ist Schweigen.

Hier lesen Sie Teil II , Teil III und Teil IV der Serie "Das Parkett ist ihre Bühne".