Eine kanado-orientalische Nacht

von Andreas Klaeui

Avignon 8. Juli 2009. Nach elfeinhalb Stunden, morgens um halb acht, gab's eine Standing Ovation. Und wir wollen nicht unterstellen, bloss weil es endlich vorüber war oder weil das Festivalpublikum sich freute, mit ein wenig Bewegung den Frost aus den Gliedern zu schütteln. Sondern um seinen "Artiste associé" zu feiern, Wajdi Mouawad, und dessen kanadische Compagnie, ihre voltenreichen Texte, ihren Theaterwitz, ihre Erzählphantasie.

Nehmen Sie warme Kleider mit! war die Empfehlung. Der Mistral kann stürmisch werden in der Provence und die Sternennächte kalt. Eine Nacht lang im Papstpalast zeigt Wajdi Mouawad seine drei Stücke "Littoral", "Incendies" und "Forêts", "Küstengebiet", "Verbrennungen" (eigentlich eher: "Brände"), "Wälder", von denen "Verbrennungen" als erstes Stück des Autors auch ins Deutsche übersetzt und nach der Erstaufführung im Herbst 2006 in Göttingen oft nachgespielt wurde.

Odysee zwischen Heimatlosigkeit und Heimsuchung

Um eine versehrte Gegenwart, die sich in den grossen Mythen der Vergangenheit spiegelt, geht es in allen drei, um Spurensuchen, Narben, eingeschriebene Verletzungen. Um, wie Mouawad sagt, "den Versuch, in einer unmenschlichen Situation seine Versprechen als Mensch zu halten".

"Le Sang des promesses", "Das Blut der Versprechen", nennt er seine Tetralogie, deren viertes Stück mit dem Titel "Ciels" (Himmel) später im Festival an einem anderen Spielort zur Uraufführung kommt. Das wird also einen Kontrapunkt geben – hier ist zunächst dreimal von der Erde die Rede, und ihren Wurzelsystemen, von Heimatlosigkeit und unterirdischen Rhizomsträngen, Heimsuchungen des Abgelegten; in einer dreiteiligen Odyssee, die Heimat zuletzt allenfalls im Abstand verortet, in der Distanzierung durch Transformation: der Kunst.

Darin spiegelt sich manches aus Mouawads eigener Biografie. Er ist gebürtiger Libanese, mit zehn kam er ins Bürgerkriegsexil nach Paris, konnte sich in Frankreich nicht niederlassen und musste abermals weiter, in den Québec. In Ottawa leitet er nun ein Theater; wo lebt er? Er zählt auf: Ottawa, Beirut, Chambéry (bei Genf; in der dortigen Nationalbühne Espace Malraux ist er künstlerischer Mitleiter).

Untote Väter

"Le Sang des promesses" handelt von Krieg, Exil, von Identitäts- und Vätersuche. Und immer erweisen sich die vermeintlich Toten als ganz und gar untot. Wie diese Väter, die ihre Nachkommen heimsuchen, jener von Jeanne und Simon zum Beispiel, den Zwillingen in "Incendies", sie haben ihn nie gesehen, aber die verstorbene Mutter gibt ihnen postum einen Brief mit, den sie abzugeben haben. Also spüren sie ihn auf im fremden Land, das ihr eigenes ist und dessen kriegerischer Horror fortan unwiederbringlich ihre Biografien überschreibt.

Oder wie Wilfrieds Vater in "Littoral", der als Bühnenfigur durch die Odyssee seiner schwierigen Grablegung geistert und viel Komik in eine an sich ernst grundierte Coming-of-age-Geschichte trägt ("Je suis mort mais je ne suis pas con!"). Und wie die fünf Müttergenerationen in "Forêts", die über die 16jährige Loup einbrechen und ihr wider Willen einen bizarren Inzestfamilienstammbaum anhängen.

Jeanne, Simon, Wilfried, Loup: sie alle sind blinde Seher-Figuren, unwissende Wissensträger, alle rasen sie wie Ödipus in ihr eigenes Schicksal, und immer spiegelt sich in diesem Schicksal auch das Schicksal einer Gesellschaft. Es sind die alten Tabus, Inzest, Vatermord, Mutterehe, die in Mouawads Stoffen durchbrechen. Seine Dramen sind im Grund Umschreibungen der grossen antiken Mythen. Auf heutige junge Helden appliziert, adoleszente oder postadoleszente – aber wie alt war Ödipus eigentlich? Heimsuchungen, von denen sie sich befreien müssen.

Kostbarer Tango einer Leiche

Mouawad liebt das Symbol, das bringt ihn gelegentlich auf die flache Bahn, nie aber auf die geradlinige. Seine Erzählungen mäandern, verzweigen sich in vielerlei Strömungen, manchmal auch nur Rinnsale, die im Kopf des Zuschauers zusammenfließen, alle angezogen von der einen Sturzfallschwerkraft der analytischen Dramaturgie – Ödipus! –­ und getragen von einer schwungvollen, pointenreichen, aber auch nachdenklichen, zuweilen (auf der flachen Bahn) etwas pathetischen Sprache, die im Augenblick von der ausgelassensten Komik in authentische Tragik kippen kann; das vermag, namentlich im Dreiklang, ein Publikum schon eine Nacht lang auf Trab zu halten.

Für Connaisseurs gibt es Anspielungen auf (Mouawads Vorbild) Robert Lepage, es gibt beiläufige Reflexionen über den sonderbaren Beruf des Theatermachens, den kostbaren Tango einer Leiche mit einem Traum – viele, viele funkelnde Details. Und Figuren: diesen fahrigen Wilfried von Emmanuel Schwartz, komplett aus dem Wind; die revoltierende Loup von Marie-Ève Perron, ... – es ist eine fabelhafte Truppe! Und sie kann, das ist nicht selbstverständlich, den Energiebogen über elfeinhalb Stunden halten.

Um acht Uhr abends ist es noch Tag in der Cour d’honneur, morgens um halb acht scheint schon wieder die Sonne. Dazwischen liegen Dämmerung, Nacht, Kälte, Sterne, Mistral; und ein wundersamer (orientalischer?) Erzählüberfluss, der in diesem surreal ausgestorbenen Morgen-Avignon, in der Dämmerphantasie des Zuschauerkopfs, ganz selbständig noch ein bisschen weiter mäandert.

 

Le Sang des promesses
Die drei ersten Teile: Littoral, Incendies, Forêts
Texte und Regie: Wajdi Mouawad, Bühne: Emmanuel Clolus, Licht: Martin Labrecque, Kostüme: Isabelle Larivière.
Mit: Jean Alibert, Annick Bergeron, Véronique Côté, Gérald Gagnon, Tewfik Jallab, Yannick Jaulin, Andrée Lachappelle, Ginette Morin, Jocelyn Lagarrigue, Linda Laplante, Catherine Larochelle, Isabelle Leblanc, Patrick Le Mauff, Marie-France Marcotte, Bernard Meney, Mireille Naggar, Valeriy Pankov, Marie-Ève Perron, Lahcen Razzougui, Isabelle Roy, Emmanuel Schwartz, Guillaume Séverac-Schmitz, Richard Thériault.

www.festival-avignon.com

Mehr lesen? Im vergangen Jahr zeigte Wajdi Wouawad in Avignon sein Solo über die Einsamkeit Seuls.

 

Kritikenrundschau

Für die Frankfurter Allgemeine (10.7.2009) hat Joseph Hanimann den Aufgalopp des Festivals von Avignon beobachtet. Auf dem "Kampfplatz des Schilderns, wo Chronisten, Propagandisten, Phantasten miteinander wetteifern", habe das Festival in diesem Jahr seine Szene eröffnet. Und siehe da: "Die große Erzählung, die in den letzten Jahren auf dem Theater per Schnitttechnik entsorgt wurde, meldet sich fulminant zurück."
Amos Gitai etwa habe – mit Jeanne Moreau in der Hauptrolle – den Bericht des Historikers Flavius Josephus über den "Jüdischen Krieg" "als großes Lautgedicht" neu bearbeitet: "Gezeigt wird große Geschichte ohne Heldengesang. (…) Für die Zurückhaltung des in römischen Diensten stehenden Juden Flavius Josephus braucht der Regisseur Gitai keine kostümierten Krieger, keine Pappfestungen, Rammböcke und Theaterblutlachen. Mit Anklängen an die politische Aktualität lässt er Gesang und Geschichte in der kalten Luft der historischen Fakten aufeinandertreffen."
Die Figuren Wajdi Mouawads hingegen, die dieser in der elfstündigen Trilogie "Le Sang des promesses" zeige, sträuben sich laut Hanimann gegen historische Größe: "Sie wollen in ihren Einzelschicksalen bleiben." Doch immer weniger gelinge es ihnen "im Fortgang der Handlung, sich aus den großen Geschichtsverläufen herauszuhalten". Mouawad habe "als Autor wie als Regisseur ein Gespür für weite Erzählbögen und szenische Bildhaftigkeit. Die Zeitläufte springen federnd vor und zurück, tragische Unabwendbarkeit kippt in Slapstick-Beliebigkeit, technokratische und archaische Kulturwelten schaukeln elegant gegeneinander, Antigone und Klytämnestra kullern unerwartet aus Sprechblasen." Talentvoll habe er "die großen und kleinen Geschichten auf die Bühne zurückgeholt." Er laufe nur Gefahr, "sich von ihnen wegtragen zu lassen".

Stefan Tigges, der für die Frankfurter Rundschau (11.7.2009) nach Avignon gereist ist, feiert Wajdi Mouawad als begnadeten Erzähler, "der in seine eigenen Erfahrungen (Bürgerkrieg und Exil) mit zahlreichen Motiven aus der (griechischen) Mythologie anreichert und ungebrochen an die poetisch-philosophische Sprengkraft jedes einzelnen Wortes glaubt". Obwohl Mouawad Gefahr laufe, immer wieder seine eigene Geschichte zu wiederholen, geht von seinen Geschichten aus Sicht des Kritikers eine universelle Kraft aus. "Sie rufen sämtliche Menschheitsdramen des 20. und 21. Jahrhunderts polyphon auf und verdichten sie schmerzhaft. Es gelingt ihm dabei, die individuell erzählten Geschichten in der Weltgeschichte aufgehen zu lassen. Und mit der Frage nach Schuld ist wie immer auch die Aufarbeitung der Geschichte(n) und die Hoffnung nach Versöhnung verbunden."