La Bonne Dame im Puppenhaus

von Andreas Klaeui

Avignon, 9. Juli 2009. Mit Wajdi Mouawad hat das Festival d'Avignon zum ersten Mal einen außereuropäischen Artiste associé, also einen künstlerischen Gastkurator, der dem Programm eine persönliche Struktur gibt. Mouawad ist gebürtiger Libanese, im Bürgerkrieg nach Paris exiliert, jetzt Theaterleiter in Québec. Im Festival zeigt er seinen Menschheitsgesang Le Sang des promesses als Reise durch die Nacht, es gibt einen Nahost-Schwerpunkt (mit unter anderen Amos Gitai), internationale Habitués wie Christoph Marthaler, aber auch einen Québec-Schwerpunkt.

Die frankokanadische Theaterkultur ist in der Grande Nation wenig bekannt, auch wenn Künstler wie Robert Lepage oder Denis Marleau schon in früheren Jahren in Avignon auftraten. Nun zeigt Marleau seine Inszenierung des Bernhard-Erstlings "Ein Fest für Boris". Wie geht der Kanadier auf Thomas Bernhard zu? Mit brillanter Coolness. Es fängt schon schön unterkühlt an: mit Videobildern im azurblauen Bereich, mondäner Chic der Sixties, Seventies, Villen im Bau- oder Kolonialhausstil, Cabriolets, Wassersport, die Côte (d’Azur) ist ja nicht weit von Avignon.

Die Despotie der Schwachen

Hier rollt "Die Gute" herein, die bei einem Unfall ihre Beine verloren hat (amputiert wie Österreich nach dem Krieg…), allerdings nicht auf einem Rollstuhl, sondern auf einem eleganten rollenden Fauteuil. "Ein Fest für Boris" ist quasi ein Monolog der Guten, gegliedert in zwei Prolog-Bilder und das Fest. Die Gute tyrannisiert mit der Despotie der Schwachen ihre Umgebung: die Dienerin Johanna, den ebenfalls beinlosen Boris, den sie aus der "Anstalt" herausgeheiratet hat, um ihn zu quälen. Im Garten hat sie Bäume kappen lassen, damit er immer schön auf die Anstalt sieht; zum Geburtstags-Fest schenkt sie ihm das Paar Reitstiefel, "das du dir immer gewünscht hast", auf der ebenfalls geschenkten Trommel wird er sich am Ende zu Tode trommeln: entfesselt.

Oder vielmehr: befreit von den Fäden, an denen er hing. Es sind ja alles Marionetten hier. Denis Marleau schält den Puppencharakter der Bernhard-Figuren heraus. Im zweiten Bild ist Johanna nur noch eine Kinderpuppe auf dem Schoß der Guten, im ersten Bild bereits menschlich, erotisch entfremdet durch die Gender-Gegenbesetzung, gespielt von einem Mann (Guy Pion). Sie fährt eine immens große Hutschachtel auf die Bühne, und nimmt auch da wieder gegenüber dem Requisit Puppengröße an, sie klettert darin herum, um der Guten all die Hüte und Handschuhe herauszukramen, die sie (im Kinderspiel, Puppenspiel) anprobiert, bis sie zuletzt kopfüber hineinfällt.

Golden Boys mit Videogesichtern

Die Gute ist kein Scheusal, wie man es meist sieht, Christiane Pasquier siedelt sie eher im Bereich kindlich-grausam an. (La Bonne Dame heißt sie nebenbei auf Französisch, was den Sinn der "Wohltäterin" unterstreicht, eine "Bonne" wäre die Dienerin oder die Zofe, wie in Genets "Bonnes", die ja ebenfalls Handschuhe und Kostüme der  Herrschaft anprobieren… Ich denke, hier gibt es in der Tat eine kleine Differenz, eine minimale kulturelle Verschiebung der Wahrnehmung, im Französischen schwingt Genet hier immer mit, mehr als das "amputierte" Österreich.)

Marleau verzichtet auf das Rollstuhlballett beim Festbesuch, die dreizehn beinlosen Gäste aus der "Anstalt", die alle Karl August Ernst, August Ernst Viktor, Viktor Karl Ernst etc. heißen, fahren auf einem sonderbaren Puppengefährt herein: verblüffende, raffinierte mechanische Golden Boys mit Videogesichtszügen. Den Schlusschor spricht wieder ein einzelner Schauspieler, Guy Pion, im Video vervielfacht zu einer Serie Klone seiner selbst. Alles läuft darauf hinaus: Marionetten, Puppen, Spielzeug, und natürlich hat "la Bonne Dame" alles andere als die Fäden in ihrer Hand. Auch das Lachen, mit dem sie zum Schluss allein übrig bleibt, ist kein "fürchterliches Gelächter", wie es Thomas Bernhard wollte. Eher von der kühlen Sorte, stockend, hilflos. Oder eben doch: fürchterlich.

 

Une Fête pour Boris (Ein Fest für Boris)
von Thomas Bernhard
Französischer Text von Claude Porcell
Regie: Denis Marleau, Konzept, Video und Bühne: Stéphanie Jasmin und Denis Marleau, Musik: Nicolas Bernier und Jérôme Minière, Licht: Marc Parent, Puppen: Claude Rodrigue, Kostüme: Isabelle Larivière.
Mit: Christiane Pasquier, Guy Pion, Sébastien Dodge.

www.festival-avignon.com