Kasimir und Karoline verfehlen sich in der Spaßgesellschaft

von Hartmut Krug

Athen/Berlin, 14. Juli 2009. Erbaut als überdachter Konzertsaal für 5000 Besucher vom Multimillionär Herodes Atticus im Gedenken an seine verstorbene Frau, ist das als Freilichttheater ohne Überdachung im 19.Jahrhundert wiederhergestellte Odeion für die 1955 begründeten Athener Festspiele meist ein Ort gewesen, an dem die Stars der Musikszene den Reichen Athens aufwarteten. Auch wenn Johan Simons seine Horváth-Version (nicht zu Unrecht) als Musical ankündigte, war es ein Wagnis von Festivaldirektor Yorgos Loukus, dieses in Griechenland eher unbekannte Stück (in französisch mit griechischer Übertitelung) an diesem Ort an zu bieten.

Unterhaltungslust

Sie klettern die steilen Zuschauerreihen hinab zum runden Bühnenpodest und grüßen ausgelassen das Publikum. Karoline, im schwingenden Chiffonkleid und mit blonder Mähnenperücke überm kurzen schwarzen Haar, und ihr stämmiger Kasimir sind getrieben von lebhafter Unterhaltungslust.

Sie hüpfen tanzschrittartig, sie strecken ihre Gliedmaßen in alle Richtungen und schwimmen auf der Klingklang-Musiksoße der in schwarz-weiße, körperenge Kleidung gezwängten Musiker zappelnd dahin. Hier steht keiner still, hier geht jeder mimisch-gestisch unentwegt weit aus sich heraus.

Gegen die musikalische Dauerbeschallung kommen Mikroports zum Einsatz, damit die Schauspieler an diesem für seine wunderbare Akustik berühmten Ort gehört werden können.

Wo Horváth seine Figuren nicht aus sich heraus kommen lässt, da sind sie bei Simons von Beginn an stets in doppelter Weise außer sich. Die Brutalität einer emotionalen Stille, die leisen Sehnsüchte, bei Horváth gesetzt gegen den verzweifelten Trubel des Oktoberfestes (auch in den vielen Kitsch- und Kunstliedern des Stückes), ist bei Simons einem weitgehend unbedenklichen (heutigen?!) Unterhaltungs- und Fröhlichkeitsdruck gewichen.

Sehnsuchtsort? Fehlanzeige

Auf dem Dach über den Musikern, die vor einer durchscheinenden Wand mit grellen Leuchtröhren agieren, steht in riesengrossen Leuchtlettern "Enjoy". Hier hinauf steigen sie immer wieder alle, wenn sie nicht gerade auf einem seitlichen Gerüst agieren, auf dem Leuchtröhren die Umrisse eines Hauses anzeigen.

Man könnte meinen, es sei der bürgerliche Sehnsuchtsort der von Arbeitslosigkeit und Armut gebeutelten Kasimir und Karoline. Genutzt aber wird auch dieses Gerüst von allen Figuren und allein funktional, - damit mehr Bewegungsabwechslung auf der Bühne ist. Nur am Schluss, wenn Kasimir mit seiner neuen, eigentlich falschen Geliebten Erna hier das Rosenlied singt, und zwar auf deutsch (Achtung: Gefühlskitsch!), wird das Haus als Sehnsuchtsort bespielt. Leider hat Bühnenbildner Bert Neumann diesmal nur routiniert und recht uninspiriert bekannte Versatzstücke aus seinen Volksbühnen-Inszenierungen auf die Bühne gestellt.

Ereignislosigkeit

Horváths Stück findet in Simons Inszenierung nicht statt. Zwar wird Horváths Geschichte erzählt, von Kasimir und Karoline, von der Trennung der Büroangestellten und des gerade arbeitslos gewordenen Kraftfahrer, die sich in sozial schwierigen Zeiten auf dem Oktoberfest emotional abhanden kommen und sich schließlich jeder mit einem anderen Partner vergeblich zu trösten versuchen. Bei Simons fehlt jedoch nicht nur der soziale Hintergrund, sondern auch jede innere Entwicklung der Figuren, bei ihm sind sie allesamt von zeitloser, französischer Heutigkeit und zugleich von allzu eindeutiger, flacher Theatralität.

Nun kann man keinem Regisseur, der wie Simons einem alten Stück (s)eine neue, eigene Form gibt, allein dies zum Vorwurf machen, - wenn seine neue Fassung auch neue Qualitäten aufweist, wenn sie etwas anderes auf spannende Weise erzählt. Das allerdings gelingt Simons nicht. Denn einerseits buchstabiert er das Stück Satz für Satz auf französisch nach, andererseits aber verleiht er dem Text, indem er ihm seine emotionalen inneren Spannungen durch das heftige äußere (und monoton wirkende) Spiel seiner Schauspieler nimmt, eine schnell langweilende Ereignislosigkeit.

Nackter Hintern an Cabrio

Da können sich die Menschen, die an einem Tag auf dem Oktoberfest aufeinander treffen, merkwürdiger Weise noch so oft in neuer Bekleidung präsentieren, da kann die Direktorin der Abnormitätenschau noch so wild und leichtbekleidet Rocksongs röhren, da können die beiden reichen älteren Herren noch so heftig grimassieren (und einer von ihnen mit nacktem Hintern an einem Cabriolet auf eine junge Frau zu hüpfen suchen): die Figuren bleiben uninteressant. Sie werden nicht begründet, in keiner und für keine Zeit. So bleiben sie sozial und emotional "gesichtslos".

Wenn die fröhliche Darstellerin der Karoline ihre Sätze mit der Gestik von Angela Merkel illustriert, wenn der schmal-steife Darsteller des Schürzinger, des neuen Galans von Karoline, sich meist frontal zum Publikum äußert und am Schluss einen blauen Delphin-Luftballon steigen lässt (statt eines bei Horváth eine Rolle spielenden Zeppelins), und wenn der linkisch-massige Darsteller des Kasimir sich dem Auto auf der Bühne mit schier erotischer Begierde nähert und seine Karoline, sie minutenlang würgend, ans Fahrzeug presst, dann sind all das nur äußere Effekte eines seine Vorlage und einen eigenen Inszenierungskern verfehlenden, wenig fesselnden Theaterabends.


Kasimir en Karoline
von Ödön von Horváth
in französischer Übersetzung von Ann Rogghe und Jean-Philippe Bottin
Regie: Johan Simons und Paul Koek, Set Design: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Musikalische Leitung: Paul Koek, Musiker: Rik Elsgeest, Bo Koek, Ton van der Meer, John van Oostrum.
Mit: Reinout Bussemaker, Els Dottermans, Frank Focketyn, Pauline Greidanus, Elsa May Averill, Wim Opbrouck, Kristof Van Boven, Oscar Van Rompay, Judith Pol, Yonina Spijker, Inke Trekker, Louis van Beek.
Eine Produktion von NTGent & Veenfabriek

www.ntgent.be

www.greekfestival.gr

 

Offenlegungstatbestand

Das "Hellenic Festival" hat, wie schon letztes Jahr, zahlreiche deutsche Journalisten, vor allem der Printmedien, eingeladen und ihnen Fahrt oder Flug und Übernachtung bezahlt. Unter den eingeladenen Journalisten war auch Hartmut Krug. Das Festival zahlt die Reisekosten.


Mehr lesen? Johan Simons, designierter Chef der Münchner Kammerspiele ab 2010/11 zeigte bei des Wiener Festwochen 2009 seine Billy-Wilder-Adaption Instinct. An den Münchner Kammerspielen inszenierte er im März 2009 mit Drei Farben einen Abend über die Ideale der Trikolore.

 

Kritikenrundschau

Wenn in den antiken Theatern von Athen und Epidaurus gespielt werde, "dann bildet die Geschichte einen sehr tiefen Hallraum: Sich in ihm zu behaupten, mehr zu sein als großer Kulturevent vor spektakulärer Kulisse, ist nicht einfach", schreibt Katrin Bettina Müller in der tageszeitung (16.7.). Im Gegensatz zu Nicholas Hytner und seiner "Phèdre" glückt das jedoch dem Regisseur Johan Simons, der im Odeon in Athen "Kasimir und Karoline" von Ödön von Horváth inszeniert hat, das später noch beim Festival von Avignon im Papstpalast wieder unter freiem Himmel gezeigt werde. "Dass dies auch der Himmel ist, der sich über jenem Oktoberfest wölbt, auf dem Kasimir seine Karoline verliert, glaubt man leicht." Die historische Kulisse der steinernen Bögen und Türme des Odeon bilde hier keine respektheischende Figur der Beeindruckung, "sondern fügt sich in die durchlässige Raumstruktur, die der Berliner Bühnenbildner Bert Neumann aus Wellblechwänden, Gerüsten, Leuchtzeichen und glitzernden Buchstaben gebaut hat, wie ein zusätzliches Fragment in die ewige Baustelle Stadt ein." Langsam und melancholisch begleitet eine vierköpfige Kapelle die sehr gebremste Ausgelassenheit der Arbeiter, Aufsteiger und Kleinkriminellen Horváths, und die Musik steigert die Beiläufigkeit, "mit der Horváths Figuren auch gerade da, wo es ihnen an den Kragen geht, über ihr Verhältnis zur Welt nachdenken".

"Es strömt Musik, und dies so monoton als möglich", findet dagegen Jürgen Otten in der Frankfurter Rundschau (16.7.). "Das Enervierende daran ist natürlich Konzept" und dieses Konzept will, dass der Abgrund direkt hinterm Vergnügen wohnt. "Alles Komödianten, deren Seele sich hinter den Kleidern, der Schminke, der Show verbirgt. Dass sie dunkel ist, daran lassen Simons und Koek keinen Zweifel." Was sie aber dunkel werden lasse, das berücksichtigen sie zu wenig. "Fast gewinnt man den Eindruck, die meisten Figuren seien letztlich denunziert oder zumindest karikaturisiert." Immerhin sei das Ende trostreich. "Kasimir (Wim Opbrouck) liegt mit Erna (Yonina Spijker) im kleinbürgerlichen Glückshaus, und am Himmel entschwebt ein luftgefüllter Delphin. Ein anmutiges, ein poetisches, ein kitschiges Bild. Dessen Trug nicht nur die Götter erschauen können."