Das ständige Da-Sein

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 30. Juli 2009. Es ist eine der großen Schicksals-Szenen in der Antikenliteratur: "Tanzend und singend" ist Agaue (Corinna Harfouch), die Mutter des Theben-Königs Pentheus unterwegs in die Stadt, noch ganz in Trance vom Kult der Bakchen. Einen Löwen glaubt sie zerrissen zu haben. In Wahrheit war es ihr Sohn Pentheus, dessen Haupt sie jetzt stolz vor sich her trägt, zum lähmenden Entsetzen der Bewohner.

Und weil jede Zeit ihre eigenen fatalen Schicksalsschläge bereithält, die Gegenwart nicht anders als die Antike, klingelte genau an diesem dramatischen Höhepunkt dieses Gedächtnisabends für den verstorbenen Regisseur Jürgen Gosch das Handy in der Hosentasche des Dionysos-Sprechers Ernst Stötzner, zum nicht minder lähmenden Entsetzen aller Anwesenden.

Plötzlich aschgrau in der Stimme
Es war durchaus bewunderungswürdig, wie die Schauspieler auf der Bühne des Salzburger Landestheaters diesen Faux-Pas überspielt und damit in den Griff bekommen haben. So leicht entkommt man dem intensiven Sog auch nicht, den Corinna Harfouch in dieser Lesung der "Bakchen" entfaltet. Jürgen Goschs Inszenierung des Euripides-Stücks hätte die Schauspielschiene der Salzburger Festspiele eröffnen sollen. Bis zuletzt – noch am Tag vor seinem Tod am 11. Juni - hatte Jürgen Gosch mit dem Ensemble daran gearbeitet.

Man bekam an diesem Donnerstagabend auch eine Ahnung davon, dass aus diesem, nun nur als Lesung präsentiertem Stück, ein großer Festspielabend hätte werden können. Nicht zuletzt Dank Corinna Harfouch, die so sinnlich und zugleich erdfern den makabren Einzug der Agaue in Theben gestaltete. Das Erwachen dieser Frau aus dem schönen Traum: ein Kabinettstück an Leisheit, die Harfouch aschgrau plötzlich in der Stimme, keine falsche Regung. Das ging unter die Haut.

Zu viert haben sie gelesen: Ernst Stötzner gab den Dionysos, der da kommt, um mit dem ungläubigen Menschlein ein gar bitterböses Spiel zu treiben. Nicht wenig Ironie legte er hinein in die Sätze, die Roland Schimmelpfennig so schön musikalisierend neu übersetzte. Ein bukolisches Element brachten Corinna Harfouch und Corinna Kirchhoff ein, als sie die Szenen des alten Kadmos und des blinden Sehers Teiresias lesen, die sogleich durchschauen, dass mit einem Gott – sei's nun er selbst oder, wie er vorgibt, sein Sendbote – nicht zu spaßen ist. Also eilends humpelnd ab in den Wald zum Bakchenfest! Auf der anderen Seite gibt Charly Hübner einen Pentheus, der völlig ahnungslos, in bemitleidenswerter Selbstüberschätzung dem rächenden Gott auf den Leim geht.

Nah, greifbar, authentisch
Vielleicht hätte diese Regiearbeit ja gar nicht so anders ausgesehen als Goschs letzte Tschechow-Produktionen, Onkel Wanja und vor allem Die Möwe (die derzeit noch als Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin bei den Salzburger Festspielen zu sehen ist). In seinen letzten Inszenierungen ließ der Regisseur gerne das Licht im Zuschauerraum brennen, holte die Darsteller von den Sitzen am hinteren Bühnenrand nach vorne. Das hat man nun auch am Beginn der Lesung in Salzburg angedeutet.

"Ich empfinde es als das Deprimierendste, wenn ich ins Theater gehe und es geht erst mal das Licht aus. Dann möchte ich am liebsten einschlafen. Diese Trennung von Leben – bis dahin ist ja noch alles relativ normal – und Theater ist schon ein merkwürdiger Vorgang. Und darunter leide ich zunehmend." So hatte es Gosch 2006 in einem Interview mit Nina Peters auf den Punkt gebracht, das nun im Salzburger Programmheft abgedruckt ist. Das nie verlöschende Saallicht, der unprätentiöse Auftritt, das ständige Da-Sein – all das macht die Figuren nahe, greifbar, authentisch: großes, darstellerzentriertes also Theater auch, wenn der Text wie diesmal nur gelesen wird.

Ein Zeitdokument
Ein Gustostück für Kenner (das freilich nicht wenig Durchhaltevermögen forderte vom (überschaubaren) Publikum hatte man für den zweiten, deutlich längeren Teil des Abends in Salzburg vorbereitet: eine Projektion jenes Ödipus-Films, der die für Köln 1984 entstandene, 1986 im Hamburger Thalia Theater aufgezeichnete Inszenierung dokumentierte. "Goschs Durchbruch im Westen", so der Schauspieldirektor der Festspiele, Thomas Oberender. Als Zeitzeugin erzählte vorab die Schauspielerin Elisabeth Schwarz - die in der Inszenierung Ödipus' Mutter und Ehefrau Iokaste spielte – dass damals keine Fernsehstation Interesse gezeigt habe an einer Dokumentation dieser viel beachteten Aufführung. Und so hätten eben die Schauspieler beschlossen, aus eigener Initiative Kameramann, Filmmaterial und Entwicklung zu bezahlen.

Dieses Filmmaterial ist dann freilich, warum auch immer, lange verloren gewesen, und erst in den Wochen vor seinem Tod hat Jürgen Gosch selbst noch den Schnitt des wiedergefundenen Materials veranlasst: ein Zeitdokument nicht zuletzt deshalb, weil es von Gosch-Inszenierungen sonst keine Aufzeichnungen gibt. Da hört man über Ton-Mängel und sieht man über die "handgestrickte" Technik gerne hinweg.

 

Die Bakchen
von Euripides, in einer Bearbeitung von Roland Schimmelpfennig
Szenische Lesung Jürgen Gosch zum Gedächtnis
mit Corinna Harfouch, Corinna Kirchhoff, Charly Hübner, Ernst Stötzner.

www.salzburgerfestspiele.at


Mehr lesen? Anstelle der unvollendet gebliebenen Bakchen war in Salzburg 2009 Jürgen Goschs Berliner Inszenierung von Anton Tschechows Künstlerdrama Die Möwe zu sehen, die als sein Vermächtnis gilt.

 

Kritikenrundschau

Diese Bakchen wären möglicherweise die Krönung seines ebenso späten wie umfassenden künstlerischen Erfolgs geworden, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1. 8.), und setzt die Lesung ins Verhältnis zur spät vollendeten Aufzeichnung von Jürgen Goschs berühmter "Odipus"-Inszenierung, die anschließend zu sehen war. "Wie verrückt: 25 Jahre liegen zwischen diesem 'Ödipus' von Sophokles und der Arbeit an den 'Bakchen', und doch glaubt man, vom einen auf das andere schließen zu können. Nicht im vordergründigen Sinn: Jener Ödipus, Ulrich Wildgruber, trägt eine Schmerzensmaske und geht auf Kothurnen, die Bühne ist eine stilisierte Installation und nicht, wie in den letzten Jahren, einer der Spielkästen von Johannes Schütz. Aber: jenseits des hohen, pathetischen Tons, den Wildgruber anschlägt, bricht sich hier eine Menschlichkeit in einer von jedem Mythos befreiten Unmittelbarkeit Bahn, wie man sie in der Lesung von den 'Bakchen' in der Übertragung von Roland Schimmelpfennig wiederfindet. Corinna Harfouch, Corinna Kirchhoff, Charly Hübner und Ernst Stötzner verhandeln die Erscheinung eines Gottes als Gegenwartsdrama; der darin verhandelte Irrsinn ist unserer.

Das Vorgetragene wirke schnörkellos, beinahe zu gefällig, an leichterer Verständlichkeit der ohnedies nicht übermäßig komplizierten Handlung orientiert, schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.8.), enttäuscht, dass Ronad Schimmelpfennig bei seiner Übertragung auf ein dem Original angenähertes gänzlich verzichtet hat. Dennoch berühren ihn manche Sätze. Auch ahnt er, dass die Bedeutung des Weingenusses besonders betont werden sollte. "Aber viel mehr lässt sich aus der Lesung kaum erkennen." Der Mitschnitt von Goschs "Oedipus" von 1984 ließ Lhotzky gänzlich kalt, der sich eher gewundert hat, "wie solch ein pathostriefendes Deklamieren durchgehen konnte. Es hat sich eben doch eine Menge geändert. Stille, geduldige, demutsvolle Resignation beschreibt die letzte, unvollendete Regiearbeit dagegen am ehesten."

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