Ein Gespräch im Hause Krapp über ein nicht gelebtes Leben

von Joachim Lange

Salzburg, 9. August 2009. Für so etwas braucht es schon das beruhigende Bewusstsein der eigenen Bedeutung. Mindestens. Peter Handke hat sich auf eine Art von Dialog mit einem Beckett-Klassiker eingelassen. Neben dessen Monolog "Das letzte Band" aus dem Jahre 1958 hat er seinen Text "Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts" gestellt. Es ist auch ein Monolog, der, wenn schon nicht wie eine Antwort, so doch wenigstens wie ein Nachhall daher kommt.

Mein Platz in deinen Sätzen
Bei Beckett ist es Krapp, der kurz vor seinem Tod mit 69 Jahren ein letztes Mal ein Tonband bespricht. Bei exzessivem Bananen-Konsum zieht der gescheiterte Schriftsteller jedes Jahr zu seinem Geburtstag eine mündliche Lebenszwischenbilanz. Und spielt sich dabei alte Bänder vor. Besonders die dreißig Jahre zurückliegende Erinnerung an einen Moment des Glücks bei der einen Begegnung mit jener Frau im Schilf. Der auch als Mann gescheiterte Krapp hört sich selbst zu. Lässt seine Vergangenheit sprechen. Und erinnert sich damit an die eine verpasste Möglichkeit, ins wirkliche Leben mit einer wirklichen Frau zu wechseln.

In Handkes 50 Jahre nach Beckett entstandenem Text kommt diese Frau jetzt wirklich. Eingeführt von einer (weiblichen) Stimme, wird sie von einer Statue zu einer Person, zumindest zu einem Text, der jener Frau gehören könnte, der Krapp im Schilf begegnet war. "Mein Platz war ausschließlich in deinen Sätzen, in deinem 'Boot'" sagt sie irgendwann. Und sie sagt es so, dass man ihr da schon gar nicht mehr widersprechen kann, so sehr man es vielleicht auch möchte. Am Ende verschwindet sie wieder, sozusagen in seinem Leben. Und damit der zweite Monolog im ersten. "Du der Hall, und ich der Nachhall" sind ihre letzten Worte, bevor die Erzählerinnenstimme sie zusammen mit Krapp wieder in die Vergangenheit entschwinden lässt.

Lebendig, lässig, heutig
Es ist schon eine kluge und feine, also eine Schauspielchef Thomas Oberender und den Salzburger Festspielen gemäße Idee, einen Dichter wie Handke zu einer Antwort auf Beckett anzustiften. Und das – in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen – zuerst an der Salzach auf die Bühne zubringen. Auch Jossi Wieler als Regisseur liegt für dieses Unternehmen nahe. Während er aber bei seinen Operninszenierungen eher einer von den Kühnen und erfrischend Respektlosen ist, zielt er bei dieser deutschen Erstaufführung auf Akkuratesse. Hier herrscht der spürbare Respekt vor den Texten der Autoren. Er lässt die beiden Monologe schlicht und einfach aufeinander folgen und deutet ihre Verschränkung nur dezent an.

André Jung ist Krapp. Nach einer Stunde bleibt er zusammengesunken am Tisch vor seinem Mikrophon einfach sitzen, um alsbald als freundlich schalkhafter Untoter zuzuhören und zu reagieren. Der kleine, in den Zuschauerraum ragende Bühnenkasten, in dem er umständlich sein Tonband bedient, seine Bananen verdrückt und mehr geschwiegen als geredet hatte, dreht sich in die jetzt nach hinten aufreißende Bühne. Ganz hinten mit einem Diptychon für dezente Videoszenen aus dem Alltag einer Ehe. Dann geht im Zuschauerraum das Licht an und Nina Kunzendorf taucht auf. Ganz lebendig, ganz lässig, ganz heutig.

Aus dem Dunkel kommen, sich im Text sonnen
So wie sie aus Krapps Erinnerung entsteigt und ihn überlegen und mit Abstand betrachtet, ist sie nicht nur die Frau, die auf den Mann reagiert. Es ist immer auch Handke, der auf Beckett Bezug nimmt. Bedarf es für diese zweite, sozusagen innerliterarische Ebene vor allem der Worte, so braucht die erste das Charisma der Darsteller. André Jung kommt als umständlich kramender, auch von seiner Art Leben Ermüdeter, aus dem Beckett Text wie aus der Dunkelheit, aus einer Welt, die vielleicht leer ist. Nina Kunzendorf dagegen sonnt sich in ihrem Text. Macht daraus ein Gespräch im Hause Krapp über ein nicht gelebtes Leben. Und überspielt mit Freundlichkeit die Abgründe und die Trauer, die damit auch verbunden sein müssten. Aber ohne Bitternis und Verzweiflung. Mit der Gelassenheit einer vielleicht ja doch nur dem Text entsprungenen Figur.

Auf die emotionale Temperatur einer liebenden und deshalb enttäuschten oder verletzten Frau erhitzt Jossi Wieler diese Frau nicht. Nur am Ende, wenn sie – so wie Krapp zuvor – vor dem Mikrophon sitzt, um ihr imaginäres letztes Band zu besprechen, setzt Wieler einen kleinen Punkt nicht aufs, sondern unters i – wie es im Arabischen heißt. Da bricht auch bei ihr etwas durch, an diesem neunzigminütigen, wohltemperierten Theaterabend.

Das letzte Band / Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts (DEA)
von Samuel Beckett / Peter Handke
Regie: Jossi Wieler, Bühne und Kostüme: Anja Rabes, Dramaturgie: Julia Lochte, Thomas Oberender, Video: Stefan Bischoff, Licht: Jürgen Tulzer.
Mit: André Jung, Nina Kunzendorf.

www.salzburgerfestspiele.at

Kritikenrundschau

"Es sind typische Handke-Sätze, leicht beleidigt und anklagend im Tonfall – aber auch erstaunlich offen in ihren Bedeutungen", die Stephan Hilpold (Frankfurter Rundschau, 11.8.) in der Inszenierung von Jossi Wieler gehört hat. Handkes Stück sei gleichzeitig eine Verneigung vor der "aufs Wesentlichste reduzierten Beckettschen Altherrenfantasie" und "ein herausfordernder Dialog mit ihm". In der "sanften, sich dezent am Text entlang hangelnden" Inszenierung "scheint das nur in Ansätzen durch". Sein Herr Krapp ist bei André Jung "ein zersauster, zerfurchter, zerstreuter Mann", das "fein gearbeitete Porträt des abgetakelten Künstlers". Nina Kunzendorf dagegen "könnte einem Modelkatalog entstiegen sein, so attraktiv und frisch wirkt sie". Sie spricht Handkes Sätze "im lächelnden Plauderton". Entsprechend habe Wieler "die Konfrontation von Becketts Helden und der Handke’schen Nymphe" als "eine Art späte Versöhnung" inszeniert.

"Wie jetzt?", fragt Bernhard Flieher in den Salzburger Nachrichten (11.8.), Handke über, gegen, für Beckett? Großes Treffen jedenfalls." Handkes Text erweise sich jedenfalls als "eine Rede auf, gegen und für Beckett und dessen Genie". Das sei "große Poesie und große Eitelkeit, denn es geht auch um Handke selbst". Mehr als "Fetzen und Bruchstücke" von dieser Querbeziehungswelt blieben von der Premiere für ihn aber nicht hängen. Aber bitte, "Handkeologen werden a Freud’ haben, hätten sie nicht schon genug zu tun". André Jung jedoch, "sonst Symbol der Düsternis, Tunnel ohne Licht", haucht seiner Figur "Leichtigkeit" ein. "Ironie ist zu spüren." Nina Kunzendorf gerate ihr Text hingegen in "vielen Phasen" "zu geradlinig, zu gleichförmig ohne emotionale Spitzen". Und Wieler lasse "jede Außenwelt wegbrechen", schaffe "Inwendigkeit". "Beim Zuschauen bleibt das im zweiten Teil phasenweise schal. Beim Nach-Denken und Nach-Deuten wird’s aber aufwühlend."

Für Christine Dössel (Süddeutsche Zeitung, 11.8.) ist André Jungs Krapp "ein noch gar nicht so alter, aber schwer verlebter und feucht verschwitzter Künstlerexistenzclown, dem alles, von der Hose bis hin zu den Gedanken, irgendwie verrutscht". "Fahrige Nervosität" paart sich bei ihm "mit körperlicher Ungemütlichkeit, da ist einer sichtlich nicht im Reinen mit sich". Mit "subtiler Feinzeichnung" nehme Jung diesem Krapp "alles Mühsame und düster Schwere": "Er ist ein künstlerischer Clochard und armer Poet, dessen Tragik als Lebensumstandskrämer auch etwas Lächerliches hat - eine Lächerlichkeit, derer Krapp sich selbst bewusst ist, und die André Jung ganz wunderbar in seinen Blick zu legen versteht." Nina Kunzendorf ist für Dössel "eine leuchtende Erscheinung, wie dem Sommer selbst entsprungen oder zumindest einem französischen Film über die Dinge des Lebens". Und Wieler verschränke die beiden Monologe in "gewohnt dezenter Art (...) nur sehr lose und erzeugt als Grundstimmung eine flirrende, heitere Leichtigkeit, die aller Bitternis den Garaus macht".

"Unter der sehr bedächtigen Regie von Jossi Wieler führt der äußerst bedächtige Schauspieler André Jung die enge Welt eines reagiermüden Ausgezählten vor: Herz eines Boxers, Unmut eines Resignierten, Geist eines Desillusionierten", schreibt Gerhard Stadelmaier (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.8.). Die Schauspielerin Nina Kunzendorf, "enge helle Hose, roter Pulli, Stirnband", hat er in ihrer Rolle als namenlose Frau als die "mit der ton- und emotionslosen Nervigkeit einer frisch aus irgendeiner Therapie entlassenen Quasselstrippe" erlebt, eine, "die gern aus Krapps Band einen Bandsalat machen möchte, den sie mit ihrem Aceto feministico fade würzt". Sie trage "die Suada der Beleidigten so leidenschaftslos mezzopiano und aufsagerisch vor, als ginge sie diese auch nichts an". So verrausche alles "im Eintönigen". Und unter den Vorwürfen, die sie vorbringt, "fehlt eigentlich nur noch, dass sie ihm vorwirft, nichts zur Rettung Jugoslawiens unternommen zu haben". Sonst aber seien "alle Handkeschen Denk- und Dicht- und Schreibklischees versammelt. Nur dass sie (...) nichts mit Beckett zu tun haben". Denn "in seines Dichterherzens kitschigem Grunde schreibt Handke (...) mit seiner Beckett-Replique eigentlich den Groschen-Roman zu einem weltuneinverstandenen Giganten-Drama, Untertitel: "Oberschwester Namenlos klagt an: Ich war für dich nur ein Schilf-Abenteuer!".

"Was für ein Augenspieler!" ruft Ulrich Weinzierl (Die Welt, 11.8.). In Wielers "völlig aufs Wort konzentrierter Inszenierung macht André Jung aus Krapp eine in ihrem Elend hinreißende Kunstfigur." "Jede winzige Geste, jeder Gesichtsausdruck, jede Intonation, jede Pause stimmt." Es sei "unvergesslich", André Jungs Krapp "halblüstern, mit trauriger Ironie deren phallische Qualitäten überprüfend, Bananen schält und mampft". Mag aber sein, dass Wieler die den Handke-Text "allzu stilisiert realistisch, zu behutsam und zu ungebrochen umzusetzen versuchte". Denn Nina Kunzendorf "in der Rolle der Frau, ja des weiblichen Prinzips schlechthin, war gewiss keine ideale Wahl". Die "Abrechnung mit der maßlosen Egozentrik des Mannes hat etwas leichthin Triumphierendes, ewig freundlich Lächelndes. Hier redet ein Wesen ohne Geschichte, ohne Schmerzen". In Becketts radikal reduziertem Text stecke jedenfalls "ein packendes Drama, in Handkes Monolog: schön verpackter Text".

"Die Schauspieler glänzten mit feiner Ironie und hoher Musikalität. Die Bilder stimmten nachdenklich. Es wurde ein dichter Abend, der auf allen Ebenen beeindruckte, meint Norbert Mayer (Die Presse, 11.8.) André Jung hat als Krapp für ihn "auch den müden Blick eines Obdachlosen, der intensiv ist und zugleich ins Leere geht". Nina Kunzendorf hingegen "spricht ihren Monolog mit leicht verhaltenem Rhythmus, gibt Handkes Sprache, die im Vergleich zu Beckett auch Überfluss hat, ein wenig Ironie". Dem Ansatz zu einem "zartem Dialog" werde dabei "eine schöne Form gegeben. Im Verlauf des Monologs der Frau wendet sich Krapp, der anfangs noch hingesunken war, die Tonbänder zerrauft hat, ihr zu, reagiert in Mimik und Gestik. Schließlich tritt er von seiner kleinen Bühne runter auf die richtige Bühne. Nach einer Weile folgt ihm die Frau, noch im Reden greift sie ihm kurz ans Herz".

Auch für Margarete Affenzeller (Der Standard, 11.8.) ergibt Handkes "Konterpart" durchaus Sinn, "weil er die im historischen Gewand des Nihilismus gefangene Figur auf ehrenvolle Art neu bespiegelt. In der Fortschreibung Handkes liegt die Neudeutung." Jossi Wieler konnte diese mit seinen Schauspielern allerdings nicht einlösen. "Ausgerechnet! Ein Regisseur, dessen große Begabung nicht zuletzt die präzise, forschende Abbildung von Sprechweisen ist". André Jung entwickele "mimische Brabbel- und Säusel-Miniaturen". Und Nina Kunzendorf erinnerte sie, in ihren "Segelturnschuhen" an ein "hängengebliebenes Möbel aus fernen Tagen, mit dem Krapp, der anwesend bleibt, verschmolzen zu sein scheint". Das Bühnenkonzept überzeuge, doch bleibe die Sprache "gänzlich unentdeckt. Handkes Text wird abgespult wie das Geplänkel nach einem Ehezwist". Dabei müsse man Handkes Sätzen keinesfalls weihevoll begegnen. "Sie brauchen aber Beat."

 

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