Glückliche Fehler

von Dirk Pilz

18. August 2009. Thomas Oberender sagt, das Glaubwürdige am Spiel eines Schauspielers ist sowieso nicht zu inszenieren. Er spricht von der "Gestimmtheit eines Menschen", seiner "unverwandelbaren Eigenart", dem "privaten Profil". "Die Künstler spielen, wie sie leben. Und wahrscheinlich leben sie nicht das, was sie spielen."

Klingt gut, allerdings auch reichlich dunkel. Jeder Theatergänger wird dennoch ungefähr wissen, was damit gemeint sein soll. Früher hieß man es Aura, heute gilt eher Präsenz als der zeitgemäße Terminus. Auch das sind dunkle Begriffe, Beschwörungen eines Ungefähren, das sich in keine Definition sperren lässt.

Ein Liebesbrief ans Namenlose

Also bleibt nur, sich in der Kunst phänomenologischer Beschreibungen zu versuchen. Thomas Oberender probiert es in seinem schmalen Band in immer neuen Anläufen. Mal sind es Miniessays, mal Kurzporträts, kleine Beobachtungsnotizen oder anspruchsvollere Betrachtungen. Sie handeln von "Sprache als Figur", dem Virtuosen, dem Körpermenschen; lose sind sie gemäß den Arbeitsprozessen eines Stadttheaters geordnet, von der Leseprobe bis zur Premierenkritik.

Er nennt dabei keine Namen und keine konkreten Inszenierungen, als gälte es, alles Denken und Schreiben vorm Schmutz des Konkreten zu bewahren. Eingeweihte mögen einzelne Schauspieler und Regisseure erkennen, aber darauf kommt es nicht an. "Leben auf Probe" ist nicht für Insider oder Wissenschaftler geschrieben, auch nicht für Theaterhistoriker. Es ist ein Liebesbrief an die Schauspielerei, und wie alle fremden Liebesbriefe liest man das mit gemischten Gefühlen: von berührt bis befremdet.

Thomas Oberender, Schauspielchef bei den Salzburger Festspielen, Essay- und Stückeschreiber, Dramaturg und Übersetzer, erklärt einleitend, sein Buch führe in den Innenraum des Theaters. Es ist also die Frucht seiner Gegenwartstheatererfahrung, das Ergebnis vieler Probenbesuche, Kantinengespräche und Begegnungen mit Bühnenmenschen; es ist auch ein Zeugnis seiner langjährigen Verehrung für Botho Strauß – der Strauß-Sound ist unüberhörbar.

Ein Liebhaber des Ungefähren

Vielleicht muss man am meisten bewundern, dass Oberender sich das Erstaunen, die kindliche Freude an den Wandlungskünsten des Theaters durch nichts und niemand hat verleiden lassen. Auf die lästigen Ideologieschlachten um Regietheater, Texttreue oder Postdramatik reagiert er wie einer, der zu keiner Überzeugung mehr bekehrt werden muss. Oberender schwärmt, staunt und versucht, die Theatergeheimnisse zu ergründen. Vom Regisseur als "Gott im Taschenformat" bis, immer wieder, zu den Schauspielern, den Abenteurern des Unwiederholbaren.

"Schauspieler bewegen sich geschmeidig, sind selbstbewusst und gleichermaßen in der Lage zu fechten, zu singen und zu tanzen, wie auch Kunststücke zu vollführen, die uns Alltagsmenschen weit über die Möglichkeit unserer Kondition und Koordinationsleistungen hinausführen würden."

So schreiben nur Liebhaber. Und Liebhaber haben es gut: Ihnen verzeiht man fast jede Schwärmerei. Dennoch reibt man sich verdutzt die Augen. Ohne jede Scheu jongliert Oberender mit Begriffen wie Schicksal, "innerem Leib" oder Seele. Die verschiedensten Theoriebruchstücke finden bei ihm problemlos nebeneinander Platz, die widersprüchlichsten Beobachtungen fügen sich zu dem einen großen Irgendwie – die Schauspielkunst wird hier als Rätsel, fast als Numinosum angehimmelt.

Königinnen auf Staatsbesuch

Natürlich sind auch Schauspieler, "und vielleicht insbesondere sie", schreibt Oberender, "Menschen mit Scham und Scheu vor der Öffentlichkeit". Sie aber, die Schauspieler, vermögen, "diese Blöße mit der Rolle der Figur zu bedecken". Und was immer die Figur auszeichnen mag, es entsteht als eine "Collage von Handlungen" im fragilen Prozess des Probens und Probierens. "Am Ende ziehen sie diese Collage wie ein Sternengewand unter die Haut." Die Verwandlung des Schauspielers in die Figur wird damit zur Wandlung im quasireligiösen Sinne: zum Wunder. Es ist das Wunder "wie die Bühne zur Welt wird".

Von W.G. Sebald leiht sich Oberender dabei die Formulierung "glückliche Fehler": Sie sind der Fingerzeig darauf, dass Schauspieler immer auch Abstand zur Figur wahren müssen – ohne den Riss zwischen Kunst und Wirklichkeit kommt die Figur nicht zum Leben. "Schauspieler gleichen einer Königin auf Staatsbesuch – in ihrer Distanz zu sich selbst ist sie ganz sie selbst." Die glücklichen Fehler werden so zum Schrein des Unergründlichen. Womöglich mag man gerade deshalb diese von Zartheit und Scheu umhüllten Prosabrosamen nicht wieder weglegen. Sie sind in ihrer Theaterliebe ansteckend – und lassen den Leser doch hungrig zurück.

"Über die Kunst lässt sich merkwürdig wenig Genaues und kinderleicht viel Ungefähres schreiben", hat Friedrich Dürrenmatt einst bemerkt. Er findet in diesem Buch seine schönste Bestätigung.

 

Thomas Oberender
Leben auf Probe. Wie die Bühne zur Welt wird
Carl Hanser Verlag 2009
156 S., 15,90 Euro.

 

 

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