Das Theater ist verdächtig

von Dirk Pilz

Berlin, 23. August 2009. Nichts einfacher jetzt als Spott. Wie hilflos pathetisch da auf der Bühne herumgefuhrwerkt wird, wie die angeklebten Bärte beben und ordensbestückten Bäuche herausgereckt werden. Diese umständlichen Szenenumbauten, die überforderten Lichttechniker und Rolf Hochhuth als Souffleur in Reihe eins. Es wirkt alles wie eine verunglückte Schultheateraufführung. Noch nicht einmal die Blumenübergabe an die Schauspieler will gelingen – der schwerrote Vorhang schließt sich, bevor zwei Damen ihre ungelenke Lilienvergabe bewältigt haben.

Und dann dies Possenspiel im Vorfeld der Premiere von "Sommer 14", die ursprünglich im Theater am Schiffbauerdamm stattfinden sollte und über Wochen den sommerschlummrigen Theaterbetrieb mit reichlich Belustigungsstoff versorgte. Rolf Hochhuth, durch seine Ilse-Holzapfel-Stiftung Eigentümer des Theater am Schiffbauerdamm, verstritt sich mit Claus Peymann, kündigte den Vertrag mit dessen Berliner Ensemble, zog vor Gericht, unterlag, wütete gegen den Berliner Oberbürgermeister und Kultursenator Klaus Wowereit und musste am Ende in die Urania, einen Veranstaltungsort im Berliner Westen, ausweichen. Immerhin hat es Hochhuth zwischendurch geschafft, noch zum Inszenieren zu kommen – wenn man denn von Inszenieren sprechen mag.

Unter Psychose-Verdacht
Rolf Hochhuth, der Sonderling und Solitär im deutschen Theater- und Literaturbetrieb, macht es einem wahrlich nicht leicht. Es ist, als rolle er den Spottteppich mit geradezu selbstzerstörerischer Lust aus. Diese hölzern moralisierende Ästhetik seiner Stücke, und diese schulmeisterliche Wirkabsicht. Wie nahe liegend scheint es, auch diesen Abend kurzerhand mit dem wunderlichen Gebaren des Rolf H. in der Öffentlichkeit kurzzuschließen – man kommt rasch in Versuchung, den Dichter samt seines gesamten Werkes unter Psychose-Verdacht zu stellen. Es hat jedenfalls seine Gründe, dass das allgemeine Hochhuth-Bashing zu einer Art Theaterkritikerlieblingssport geworden ist.

So einfach aber ist diese Angelegenheit vielleicht doch nicht. Denn die Provokation Hochhuths ist weniger in seinem störrischen Auftreten und seiner Holzhammer-Ästhetik zu suchen, sondern in seinem unbeirrbaren Glauben an unsere Aufklärungsbedürftigkeit. Dieser Glaube speist sich aus der festen Überzeugung, dass wir allesamt blind sind, solange wir in der Geschichte, zumindest der des 20. Jahrhunderts, nach dem Guten suchen. "Geschichte ist, was jedem Volk misslang", heißt es in "Sommer 14".

Die Schuldigen haben einen Namen
Rolf Hochhuth nennt sein Stück einen "Totentanz"; es behandelt die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges. 1990 wurde es am Akademietheater zu Wien uraufgeführt. Glaubt man den damaligen Berichten, war es eine schreckliche Inszenierung. Jetzt hat es Hochhuth selbst auf die Bühne gehievt, und es ist wieder eine schreckliche Inszenierung geworden.

Denn Hochhuth braucht den Theaterrahmen nur, um seine These dem Publikumsvolk einzuprügeln. Sie lautet, dass dieser Krieg – wie jeder Krieg – nicht ausgebrochen ist, sondern gemacht wurde. Es gibt dafür viele Schuldige, nicht nur die deutsche Reichspolitik unter Wilhelm II. In elf Bildern treten die für Hochhuth wichtigsten auf: Winston Churchill und der deutsche Reichskanzler, Kaiser Franz Joseph und der amerikanische Waffenproduzent Henry Lewis Stimson, der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke, der Giftgasentwickler Fritz Haber und die Attentäter von Sarajewo.

Das achte Bild schenkt er dem französischen Sozialisten Jean Jaurès, einem feurigen Anhänger des Pazifismus, überdeutlich das Alter Ego des Dichters. Er wird erschossen. So ordentlich sortiert ist die Hochhuth-Welt. Alles in ihr ist zweifelsfrei. Und wo bereits der Text steife Dialoge unter Scherenschnittfiguren bietet, lässt die Inszenierung unbeholfene Kostümträger auftreten – Hochhuth sucht den Bühnennaturalismus.

Sein Text spitzt immerhin polemisch zu, die Regieweise aber ebnet allen ästhetischen Mehrwert konsequent ein. Jede Szene ist auf die eine, grobe Aussage reduziert: Geschichte wird von Machthabern gemacht und von Unschuldigen erlitten. In Zwischenspielen treten Opfer als Tote auf – ihre Rampenansprachen wollen das Publikumsgewissen aufrütteln, verpuffen aber in ihrer Eindeutigkeit.

Eine Katastrophe
Dennoch, Hochhuth erteilt uns eine Lektion in Geschichtsbewusstsein. Dagegen gibt es wenig einzuwenden: An das Kriegsleid der vielen Unbekannten zu erinnern, hat seine Berechtigung nicht verloren. Doch "Sommer 14" verengt die Vorgeschichte des Krieges auf die kriegsfördernden Motive und Fakten. Hochhuth feiert mit diesem Stück einen Geschichtsfatalismus, der keinen Widerspruch duldet – das historische Geschehen wird bei ihm wider Willen zu einer Apologie der Katastrophe des Ersten Weltkrieges.

Dass es so einfach vielleicht doch nicht ist, lässt sich in Philipp Bloms im letzten Jahr erschienenen Buch Der taumelnde Kontinent nachlesen; es erzählt eine europäische Geschichte der Jahre 1900 bis 1914, die nicht nach Schuld, sondern nach kriegsermöglichenden Strukturen und Prozessen sucht. Für Hochhuth aber ist die Verantwortung und das Versagen in der Geschichte immer namhaft zu machen. Er klagt an, entsprechend glaubt er an ein politisches Theater als Anklageanstalt.

Mit diesem Glauben ist er im Gegenwartstheater derzeit sehr allein – der Inhalt ist ihm alles, die Ästhetik ist ihm nichts. Dennoch haben seine Inhalte immer erst im Gewand der Ästhetik ihre Brisanz entwickelt. Auch die in "Sommer 14" von Hochhuth versammelten Fakten sind allesamt lange bekannt, entfalten jedoch im Kontext eines Bühnenwerkes seltsam nachhaltiges Verstörungspotenzial. Seine eigene Inszenierung wiederum lässt davon kaum etwas übrig – seine Schauspieler dürfen nur Text aufsagen und Kostüme tragen, nirgends Theater spielen. Dass es allesamt arbeitslose Schauspieler sind, spielt für Hochhuths Inszenierung keine Rolle. Denn alle Ambivalenz fürchtet er, auch weil er dem Denk- und Sehvermögen des Zuschauers nichts zutraut.

Seit Einar Schleefs Inszenierung von Hochhuths "Wessis in Weimar", 1993 am Berliner Ensemble, warten seine Stücke deshalb darauf, von ihrem Inhaltismus erlöst zu werden. Wenn die Erinnerung nicht trügt, war das damals eine inhaltlich wie formal überaus verstörende Aufführung – die Hochhuth-Dramatik macht nicht per se alle Bühnenmöglichkeiten zunichte.

Hochhuth hat die Inszenierung damals entschieden abgelehnt. Auch darin ist er sich treu geblieben: Er misstraut der Vieldeutigkeit des Bühnenspiels. Das Theaterspiel ist ihm offenbar verdächtig, weil es jene Gewissheiten aufzulösen vermag, die er – paradoxerweise – in Theaterstücken verkündet.

 

Sommer 14. Ein Totentanz
von Rolf Hochhuth
Regie: Rolf Hochhuth, Bühne: Clemens Leander Zessack, Kostüme: Bianca Karaula, Dramaturgie: Erik Kan. Mit: Marina Erdmann, Barbara Frey, Andrea Kurmann, Christina Mudra, Caroline Ammer, Andreas Jähnert, Jan-Andreas Kemna, Jochen Könnecke, Jan Martin Müller, Oliver Nitsche, Christoph Sommer, Claus Stahnke, Veit Stiller, Otto Strecker, Paul Weismann, Rudolf Zollner.

www.urania.de

 

Kritikenrundschau

Für die Sendung Fazit auf Deutschlandradio Kultur (23.8.) merkt Hartmut Krug an: "Der Moralist Hochhuth kennt auch als Dramatiker immer nur eine, seine, Wahrheit." Dem Zuschauer bleibe nichts, als einverständig zu nicken und/oder betroffen zu sein." Sie ergebe sich ein "mechanistisches Behauptungstheater". Hier, in Hochhuths eigener Inszenierung, werde ein "historisierendes Kostümtheater" geboten, "das zuweilen unfreiwillig komische Züge annimmt. Pickelhauben-, Ordens- und Sauerkraut-Backenbart-Träger stehen sich gegenüber und erklären sich in aufgesagten Texten, die wie Referate klingen". "Das Holzschnitthafte der Texte und das hölzerne Spiel der Schauspieler lassen Hochhuths Inszenierung wie engagiertes Liebhabertheater wirken. Dieses ästhetisch-theatralische Trauerspiel haben der Autor und sein Thema nicht verdient."

"Als Regisseur liest Hochhuth den eigenen Text durchaus nicht unkritisch", notiert Peter Hans Göpfert (Die Welt, 25.8.): "Manche Peinsamkeit ist gestrichen." Und im Textbuch ertränken die Dialoge "in einem Wust von Erläuterungen, Zitaten, Anweisungen und bis in die Gegenwart vorausgreifenden Kommentaren des Autors". Seltsamerweise wirkten die Szenen, "von diesem Ballast befreit", auf der Bühne aber "wie ausgetrocknet": "Es wird erst recht Papier geredet. Man hört und sieht keine lebendigen Menschen." Hochhuths "moralisch-pazifistische Lektion" werde vernommen, doch "die Inszenierung reißt weder mit, noch macht sie ärgerlich".

Ulrich Seidler (Berliner Zeitung, 25.8.) erinnert daran, dass Rolf Hochhuth es war, der Claus Peymann, damals noch Direktor des Wiener Burgtheaters, folgendes Anbebot unterbreitete: "Ich biete an, ein Stück zu schreiben 'Sommer 14' anlässlich des 75. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Wahrhaft ein dramatischer Sommer, ich würde Ihnen einen 'Reißer' liefern, an dem gemessen 'Der Stellvertreter' eher episch ist." Und während man jetzt, bei dem jüngsten "Eklat-Geplänkel" zwanzig Jahre später, noch unterstellen konnte, "dass auch der Dramatiker insgeheim ein bisschen ironisch-diebische Freude an seinem Spiel mit der Öffentlichkeit hat, muss man bei seiner Inszenierung davon ausgehen, dass er es ernst meint". Hochhuth  biete dabei aber einen "gebastelten Andeutungsrealismus": "Statt zu spielen werden eigentlich unauffällige, aber doch auffallend überflüssige Verrichtungen absolviert." Man hätte sich, schreibt Seidler, Hochhuth als Geschichtslehrer gewünscht, aber, und "es ist vielleicht grausam, das zu schreiben, um Hochhuths Leistungen zu würdigen, bedarf es eigentlich nicht des Theaters".

"Er ist ja eher ein Pädagoge als ein Poet", weiß Irene Bazinger (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.8.), deshalb hafte seinem Œuvre "seit jeher etwas rührend Volkshochschulhaftes an". Auch "Sommer 14" verabreiche dem Publikum wieder eine "kolossale Lektion, diesmal zum Thema korrupte Machthaber, rücksichtslose Militaristen, geldgeile Fabrikanten und armes, erniedrigtes Volk". Dass derlei Erkenntnisse längst "Allgemeingut" sind, hindere Hochhuth aber nicht daran, sie auszubreiten. Die Botschaft lautet Bazinger zufolge: "Krieg ist Käse". Von den Zuschauern in der Urania berichtet sie, "die Leute" hätten "mehr aus Solidarität mit dem unverwüstlichen alten Kämpen als aus Begeisterung" geklatscht. Und sie hat gehört, was sie sagen: "'Hast du schon jemals eine derart schlechte Inszenierung gesehen?', fragt am Buffet eine gepflegte, fast geschockt wirkende Frau in den besten Jahren ihren Begleiter, der gequält in sein Wiener Würstchen beißt." Rabiat und undiplomatisch habe Hochhuth für dieses Inszenierungsprojekt gekämpft. "'Und nun das!', mag er sich im Geheimen eingestanden haben, frustriert von seinen Bemühungen: So gut gemeint und dann so knallhart abgestürzt."

"Hochhuth macht es einem nicht leicht", schreibt Patrick Wildermann (Der Tagesspiegel, 25.8.). Nicht mit dem "Firlefanz" der vergangenen Wochen im Vorfeld der Inszenierung und nicht mit dem Stück "Sommer 14": Es "serviert trockenen Historienschinken auf rhetorischem Graubrot". Und "wer im Ränkespiel der Großmächte nicht bereits bestens bewandert ist, an dem rauschen die elf Bilder der aktuellen Fassung von Regisseur Hochhuth vorbei wie die Preußische Eisenbahn. Der muss versuchen, sich an der unfreiwilligen Komik zu erfreuen, die in den spröden Tourneetheater-Kulissen (...)  ihren Lauf nimmt. Was schwer wird." Gleich das erste Bild sei so "boulevardesk und laienhaft bierernst aufgezogen", dass man sich den Blackout wünsche. "Die Schauspieler, es lässt sich nicht beschönigen, sind durchweg überfordert mit diesem bleischweren Aufsagetheater, das ihnen nichts als steifes Pathos und Dialekte zwischen Berlinern und Wienern abverlangt, die sie nicht hinbekommen."

 

 

 

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