Die Kunst des Würstchenessens

von Georg Petermichl

Wien, 27. August 2009. Wenn man die Borniertheit einer Gesellschaft ins Rampenlicht zerren will, bereitet der Gourmetwahn eines Tischgelages den richtigen Rahmen: Die Grenzen des individuellen Geschmacks sind nach unten offen, der menschliche Gestaltungstrieb für die eigene Welt wird freigelegt, und nebenbei lassen sich die Handfertigkeiten der Dinnerkunst in einer schier unendlichen Bandbreite an Bühnenmanierismen ausbreiten. Die Zutaten werden in Dialogen zu Wertaussagen, und der Umgang mit dem Zubereiteten gibt Auskunft über das Ausmaß der gesellschaftlichen Verdorbenheit.

Bei "Ein ganz ausgefallenes Abendessen" wird dieser Umgang allerdings nur vorgetäuscht: Die österreichische Jungregisseurin Alex Riener hat die Teller für die Inszenierung von Fernando Pessoas Novelle leer gelassen. Gespieltes Schmatzen, übertriebenes Schlürfen, Gustieren, Kauen, Kiefeln. Der Abend ist keine ernsthafte Analyse, sondern Klamauk.

Verblendete Gourmands
Als Pessoa, der große portugiesische Nationaldichter, 1907 seine Novelle veröffentlichte, war die Jagd auf die große Unergründlichkeit der menschlichen Seele dank Sigmund Freud gerade eröffnet. Zusätzlich war Pessoa auch mit Aleister Crowley befreundet. Seine literarische Hinwendung zu einer Tischrunde, die einen Exzentriker völlig ungebremst bewundert, ist damit verständlich. Der Autor behandelt den Funken, der von diesem enigmatischen Eigenbrötler auf eine derbe Menschenmasse überspringt, sie in den unbewussten Kannibalismus treibt und so letztlich zu einem triebgesteuerten Mord an ihm führt.

Fürs heutige Sozialgefüge wirkt der Zündstoff dieser Geschichte allerdings überholt. Herr Prosit (sic!), der Anführer der Berliner Kulinarischen Gesellschaft, lauscht zunächst einer endlosen Diskussion über den Verfall der kulinarischen Kunstfertigkeit. Schließlich lädt er seine Vereinsmitglieder zu einem "ganz außergewöhnlichen" Abendessen ein. Was die Einladung mysteriös macht: Gerade erst hat er sich mit Frankfurter Widersachern auf dem Gebiete der Kochkunst gestritten. Die Community glaubt er möchte sich "kulinarisch beweisen". Zum Höhepunkt zermatert man sich beim entsprechenden Dinner den Kopf, was denn nun das Ausgefallene ihrer Essenseinladung sein könnte, während sie die köstlich zubereiteten Frankfurter Köche verspeisen.

Slow-Motion der Profilierungsneurosen
Fünf Tische samt grünen Bierflaschen, Suppen- und Vorlagentellern, sowie Saucieren haben sich vor den Tisch des gesellschaftlichen Großmeisters Prosit (Florian Tröbinger) positioniert: Eine schnittige Pfeilformation in Tischform. Ganz in Schwarz mit Bauchbinde und bis oben zugeknöpft erinnert Prosit schon zu Beginn an einen Fernsehprediger mit todbringender Religion. Davor sitzt sein fünfköpfiges "Volk", bestehend u.a. aus dem Mädchen, das seinen Schmuck gern im Suppenteller verliert (Eva Pröglhöf) und der schrillen Schreckschraube (Karola Niederhuber), die den Gesprächsstoff avantgardistisch mit Cindy Laupers "All through the night" auffrischt.

Meister Prosit hat also eine albern aufstreberische Gästeschar. An seinem Tisch sitzt etwas deplatziert mit Frau Meyer (Stefanie Phillips) die Erzählerin der Entmenschlichungsposse. In der Ausstattung von Birgit Knoechl gibt sie eine Chefsekretärin, die sich mit ihrem eigenen Jausenbrot und einer Boulevardzeitung vom Geschehen abgrenzt. Wenn Meyer nun, um die Geschichte voranzutreiben, ans Standmikro tritt und hysterische Heiterkeit über ihren Anführer verbreitet, verfällt die Runde in Zeitlupe, kontrolliert den Lippenstift im Spiegelbild des Messers, feilt an Nägeln, zupft sich am Revers.

Manierierter Stellungskrieg
An anderen Stellen geht die Gemeinschaft in ihren Profilierungsneurosen auf: Ihre Einstellung zu Bordeaux, Burgunder, Austern oder der Unterschied zwischen kulinarischen Katastrophen und kulinarischem Scheitern werden feilgeboten. Alex Rieners Theatergruppe "dielaemmer" hat die Hierarchie des sozialen Gefüges als hauptsächlich statischen, manierierten Stellungskrieg für die Sommerbühne des Wiener Schauspielhauses umgesetzt. Die Tanzsequenz zu Wolfgang Fritschs (von den Sofa Surfers) Electro-Ambient Sounds, mit der eine totale Abhängigkeit von dem durchgeknallten Anstifter gezeigt wird, ist allerdings erfrischend.

"Schweigen ist Silber, Kochen ist Gold", meint Niederhuber spitz in die aufgekratzte Tischrunde und verfehlt damit natürlich weit den Rahmen, den ihre Gesellschaft einnehmen wird. Das ist grundsätzlich recht lustig. In der Wiederholung hat aber der Konflikt zwischen Profilierungsneurotikern und ihrem düstren, dunklen Endziel als Mördermaschinen, seine Aktualität bereits überdauert. Es bleibt damit eine zeitlich entrückte, überhysterische Soziografie eines Fin-de-Siècle-Gemeinschaftsbunds.

Ein ganz ausgefallenes Abendessen
nach Fernando Pessoa
Regie: Alex Riener, Ausstattung: Birgit Knoechl, Musik: Wolfgang Frisch (Sofa Surfers).
Mit: Susanna Hohlrieder, Anna Morawetz, Karola Niederhuber, Stefanie Philipps, Eva Pröglhöf, Flo Staffelmayr, Florian Tröbinger.

www.dielaemmer.net
www.schauspielhaus.at

 

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