Verrat im Plattenbau

von Katrin Ullmann

Hamburg, 5. September 2009. Jonas P. Lang wollte schon immer Theater machen. Er hätte nicht Regisseur werden sollen, sagt allerdings seine Mutter einmal, lieber Biologielehrer. Doch Jonas wurde Regisseur, gründete eine eigene Theatergruppe und hatte Erfolg. Und der Erfolg hat seinen Preis. Diesen – einen Regiestuhl mit seinem Namen auf der Lehne – hat Jonas gerade verliehen bekommen, begleitet von einer Eloge voller Lügen. Höchst empört ist er darüber, ist schlechter Dinge und hat nun Magenschmerzen.

Charmant und ein bisschen sprunghaft erzählt Jonas von Jimi Hendrix, von seinem letzten Stuhlgang, von Marthaler, Faust und Kleist. Tilo Werner spielt diesen Jonas P. Lang in Kornél Mundrcuzós Uraufführung seines mit Yvette Biró verfassten Stücks "Judasevangelium oder Verrat ist deine Passion". Es ist Mundrcuzós erste Arbeit im deutschsprachigen Raum – allzu viel Theatererfahrung hat der junge Ungar auch noch nicht. Bekannt ist er eher durch seinen Filme "Delta" (2008) oder "Lost and Found" (2005).

Großartig muffige Plattenbauwohnung

Tilo Werner gibt den deutsch-ungarischen Theatermacher locker plaudernd, fast privat. Schließlich ist er hier Zuhause und auch die Zuschauer sitzen mittendrin in seiner Wohnung. Am Eingang hatten sie die Wahl zwischen Sitzreihen in Bad, Küche oder Wohnzimmer. Zur Halbzeit des Abends wird einmal umgeschichtet, das Wohnzimmerpublikum in die Küche geschleust und umgekehrt.

Márton Agh hat diese großartig muffige, ungarische Plattenbauwohnung auf die Probebühne des Thalias in der Gaußstraße gestellt. Seine Zimmer riechen eindeutig nach Osten, sind möbliert mit gammeligen Sofas, billigen 50er Jahre Stühlen, wackeligen Stehlampen und schäbigen Jalousien. Alle Räume sind mit Kameras und Monitoren ausgestattet, die Übertragung aus den anderen Zimmern ist gewährleistet.

Hier also wohnt Jonas, der 40-jährige Theatermacher, noch immer bei seinen Eltern. Hier will er – auf der Höhe seines Erfolgs – die Novelle "Das Erdbeben von Chile" von Heinrich von Kleist inszenieren, erklärt er gerne. Da purzelt auch schon seine Schauspieltruppe herein, sechs Darsteller lassen ihn hochleben, trinken Sekt, werfen Blumen und essen Kuchen. Jonas jedoch ist in einer Krise. Erfolg macht unkreativ, meint er plötzlich. Der Theaterrausch ist weg.

Sechs Schauspieler suchen einen Regisseur

Abrupt sagt er die Proben ab, die Premiere und schließlich die ganze Zusammenarbeit. Die Schauspieler sind verloren, entsetzt. Suchen nach Antworten und Gründen. Sind verständnislos und spöttisch. Allein Kristina (Gabriela Maria Schmeide), Jonas' Freundin oder Geliebte, versucht ihn zu verstehen. Doch ihre Massageversuche im Badezimmer, die eine der Überwachungskameras ungeniert ins Wohnzimmer überträgt, fördern nur Jonas' Verspanntheit.

Nach und nach verselbständigt sich die Schauspieltruppe ohne ihren Regisseur, entsteht eine irritierende Eigendynamik um existenzielle Fragen. Da wird Max (Thomas Niehaus) in einem arktischen Selbstversuch im Kühlschrank eingesperrt, kifft und knutscht er wenig später mit Franz (Julian Greis) auf dem Hochbett in der Küche, nötigt Said (Andreas Patton) Jonas' Mutter Viktoria (Lili Monori) zu einem Tanz im Morgenmantel, bevor sie ihm einen runterholen darf, gesteht schließlich Gregor (Matthias Leja) tränenerstickt Veronika (Franziska Hartmann) sein sexuelles Vergehen an einer Minderjährigen.

Ein Kuss, ein Versprechen

Trocken und beiläufig – oftmals allerdings ein wenig zu ausführlich – erzählt Kornél Munduczó all diese merkwürdigen Begegnungen, schafft mit eindringlichen Schauspielern teils amüsante, teils beklemmende Situationen, die durch die voyeuristische Kameraperspektive noch verschärft werden. Der Zuschauer bleibt wachsam, ist stets auf der Hut, und fragt sich, ob diese befremdlichen Konstellationen Teil eines undurchsichtigen Probenprozesses jener Schauspieltruppe oder traurig-bitterer Ernst sind.

Doch Mundruczós Spannungskurve hält nur ungefähr bis zur Halbzeit an. Dann wird Jonas' Stiefvater (Axel Olsson) von einem Fremden ermordet, verfällt Viktoria in eine ein Weißbrot umarmende Schockstarre, will Jonas sich unbedingt selbst den Vatermord anhängen. Ausgerechnet Kristina soll ihn bei der Polizei anzeigen. Ein Kuss, ein Versprechen: Das Ziel scheint nah. Ab sofort geht es in der Inszenierung um Schuld und Verrat – gemäß der kürzlich wiederentdeckten apokryphen und Titel gebenden Schrift "Judasevangelium", in der beschrieben wird, dass Jesus selbst Judas beauftragt habe, ihn zu verraten.

Sarg auf dem Flohmarkt

Wie aufs Stichwort gerät alles, aber auch alles aus den Fugen, scheinen die eben noch charmant-skurrilen Figuren wahnsinnig geworden und sämtliche Handlungsstränge verloren. Der eine will den Mord zum Theaterereignis machen, der andere besorgt einen Sarg auf dem Flohmarkt, ein dritter zitiert Else Lasker-Schüler. Doch vor allem, so scheint es, hat Mundruczó selbst den Faden verloren. Denn alle dramaturgischen Köder, die er in den ersten eineinhalb Stunden geschickt auslegte, werden auf einmal belanglos und egal.

Die vormals aufgezeigten zwischenmenschlichen Abgründe und Abhängigkeiten werden übermalt von viel Gerenne und Geschrei und schließlich einem gemeinsamen, penetrant folkloristischen Gutelaunelied. Dass die Schlusssätze bei Kerzenschein aus dem Johannesevangelium gelesen werden – "Im Anfang war das Wort" – mutet vor allem pathetisch an. Doch es sind immerhin die Schlusssätze und damit eine Erlösung.

 

Judasevangelium oder Verrat ist deine Passion (UA)
von Kornél Mundruczó und Yvette Biró
Regie: Kornél Mundruczó, Ausstattung: Márton Agh. Mit: Julian Greis, Franziska Hartmann, Matthias Leja, Lili Monori, Thomas Niehaus, Axel Olsson, Andreas Patton, Gabriela Munoz Munoz, Tilo Werner, Christopher Arndt und Samantha Höfer.

www.thalia-theater.de


Mehr lesen? Yvette Birós und Kornél Mundruczós Frankenstein-Projekt war 2008 bei der Wiesbadener Bienale "Neue Stücke aus Europa" zu sehen.

 

 

Kritikenrundschau

"Mysterienspiel? Krimi? Sozialdrama? Passionsstück? – Was will uns Regisseur Kornél Mundruczo erzählen?", fragt sich Monika Nellissen in der Welt (7.9.) beim "Judasevangelium" in der Gaußstraße, und gibt auch gleich die Antwort: "Alles in allem. Und das ist zu viel." Tilo Werner als "existenziell Ringenden" findet sie "sehr überzeugend", ansonsten wird sie v.a. mit dem zweiten Teil des Abends nicht froh, der unbefriedigend bleibe, "weil hier Situationen bis zum Mord irgendwie zusammengefügt werden, die dringend einer stringenteren Regiehandschrift bedürften". Dabei fange es "richtig gut an", wenn sich zu Beginn das Geschehen an drei Lokalitäten "im Stile der Dogmafilmer" abspiele, sei das zunächst fesselnd. "Eins zu eins" sehe man, "was sich in den Räumen abspielt, kunstlos gefilmt, verwackelt, gnadenlos ehrlich, nichts künstlerisch überhöhend, nichts in filmtheatralische Form transzendiert". Beeindruckt zeigt sich die Kritikerin auch von dem "wunderbar ruhig beunruhigenden, zaudernden, ängstlichen, in Liebe zerfließenden Gesicht der Gabriela Maria Schmeide als Regisseursfreundin und Vollzugsgehilfin eines nach Erlösung Gierenden".

"Tolle Bühne, schräges Stück", findet Heiko Kammerhoff von der Hamburger Morgenpost (7.9.). Es entspinne sich hierbei "eine Art gruppendynamischer Seelenstriptease mit vielen Andeutungen, dass alles, was auf der Bühne zu sehen ist, nicht 'echt', sondern 'inszeniert' ist." Was zunächst durch die "ungewohnte Erlebnisperspektive spannend" sei, werde "mit zunehmender Dauer (...) öder und öder. Ein bisschen sehr viel Kunst im Quadrat".

Die Verschränkung der Betrachtungsebenen leistet Kornél Mundruczó, im Gegensatz zu Luk Perceval, durchaus, so Simone Kaempf in der taz (8.9.). "Kamerabilder holen das Geschehen aus den anderen beiden Räumen heran, vergrößern das Intime und das Unheimliche, als nachts ein Mord geschieht." Dieser Big-Brother-Blick erkläre zwar nicht, warum sich Jonas selbst die Tat anhängt und unbedingt Schuld auf sich nehmen will. "Aber bis dahin geht der Abend mit seiner besonderen Spielsituation beeindruckend über die Grenzen hinweg, die Realität von inszenierter Illusion trennt."

"Mal wieder eine Produktion, in der Schauspieler Schauspieler spielen". Aber darüber mag sich Till Briegleb (Süddeutsche Zeitung, 8.9.) nicht freuen. "In einer interessanten Rumpelwohnung zeigt der ungarische Regisseur Szenen zur Selbstzerfleischung einer Theatergruppe, deren Regisseur in eine Existenzkrise gerät, als er einen Preis für sein Lebenswerk erhält. Gemäß dem apokryphen Evangelium des Judas (...) bittet der Chef der Truppe auch hier darum, verraten zu werden, um durch Gefängnis erlöst zu sein." Von solchen konstruierten Psycho-Geschichten strotze die ganze Produktion. Fazit: "Das penetrante Bemühen Mundruczãs, Rätselhaftigkeit durch Psycho-Macken und sexuelle Obsessionen zu stiften, ist leider so aufdringlich ausgedacht, dass es zu Kasperltheater auf der Grundlage eines Therapeuten-Handbuchs verkommt."

Diese Inszenierung ist "ein Kopfprodukt, das sich in seiner vorgeblichen Intellektualität gefällt, auf seine theatrale Umsetzung aber nicht angewiesen ist", schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (9.9.). Vielleicht flüchte sich der Abend darum "in einen so aufwendigen wie aufdringlichen Raum". Und nur "wie Tilo Werner diese seine Erlösungssehnsucht spielt, ist beinahe das einzig Erwähnenswerte dieser Veranstaltung: Er lässt sich in seiner Wut und Ironie nie einordnen". Alle anderen "hampeln und hecheln aufgesetzt authentisch durch die Rollen, als wäre Theater kein Kunst-, sondern ein Kasperfach – sie werden zu Karikaturen ihrer selbst". Mit dem vor einigen Jahren entdeckten Judasevangelium habe die Inszenierung nur in einem "verwegenen Sinne" zu tun: "Hier wählt ein Regisseur die Opferrolle um seiner selbst willen, der Verräter Jesu ist dem Judasevangelium gemäss dagegen Werkzeug eines göttlichen Willens zur Erlösung aller. Wir wollen lieber nicht genauer nachfragen, was es bedeuten soll, wenn in Hamburg der Regisseur zum Heiland wird."

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