Made in China

von Stefan Bläske

Wien, 5. September 2009. Wer gerne Haare in der Suppe sucht, für den ist Roland Schimmelpfennigs Uraufführung "Der goldene Drache" das gefundene Fressen. Besonders zu empfehlen: Nummer 6, Thai-Suppe mit Hühnerfleisch, Kokosmilch, Thai-Ingwer, Tomaten, Champignons, Zitronengras und Zitrusblättern (scharf). Denn dort, auf dem Boden der Schüssel, liegt der Schlüssel zum Stück: Ein Zahn, blutig und kariös. Igitt, sagt die Stewardess, die ihn entdeckt und angewidert rausrauscht aus dem Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurant.

Aua, hatte der Asiate geschrien, als ihm der halbverfaulte Zahn mit der Rohrzange aus dem Mund gebrochen wurde. Zum Zahnarzt konnte der Junge (wunderbar winselnd: Christiane von Poelnitz) nicht, er hat ja keine Papiere, so versuchen es seine Kollegen in der Küche des Asia-Imbiss schließlich auf die grausam altmodische Art – mit unschönem Ausgang. Noch schlimmer ergeht es seiner Schwester, sie wird zur Prostitution gezwungen, misshandelt und "kaputtgemacht" (O-Ton), "das arme Ding".

Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse ...

So bedrückend und widerlich das ist, von Schimmelpfennig wird es – ähnlich wie die Suppe mit dem verfaulten Zahn – mit einem sanften Lächeln serviert. Die moralinsaure Sozialkritik ist wohldosiert, bekömmlich zubereitet und von den Darstellern mit Witz und Spielfreude garniert. So gibt es einiges zu Schmunzeln, und am Ende können sich die Applaudierenden freuen, dass der Theaterabend gut gemacht und nett war – aber, ach, die Menschen eben nicht immer ganz so gut und nett zueinander sind.

Tiere freilich auch nicht, wie ein Insektenschicksal zeigt. Eine hungernde Grille wird für ein bisschen Nahrung und Bleiberecht von Ameisen zur Prostitution gezwungen, misshandelt ... Bei Tierparabel-Liebhaber Roland Schimmelpfennig wird zur Ameisenstadt, was bei Lars von Trier "Dogville" hieß. Die Erzählhaltung von Stück wie Inszenierung wirkt recht brechtisch, "Pausen" sind als Sprechtext den Figuren zugeordnet. Die Darsteller adressieren mehr das Publikum als dass sie miteinander spielen, ihre Haltung zu den Figuren erscheint als verfremdende, vorführende.

Asiaten und Insekten

Die Virtuosität des Ensembles und des Abends besteht darin, dass es – obwohl so manches Klischee bedient wird – den fünf Darstellern gelingt, ihre Figuren aus-, aber nicht bloßzustellen. Sie nehmen sie ernst – und sind dabei stets lustvoll-verspielt. Immer befinden sich alle auf der schlicht weißen, zunehmend von Requisiten bedeckten Bühne, ständig wechseln sie ihre Rollen und Kostüme. Mit bunten Halstüchern verwandeln sich Falk Rockstroh und Johan Adam Oest von Imbiss-Asiaten zu Flugbegleiterinnen (letztlich derselbe Job: Essen servieren, nur weiter himmelwärts). Ein grauer Arbeitskittel reicht bei Barbara Petritsch, um zwei ihrer Rollen eins werden zu lassen: Lebensmittelhändler und Ameise. Als Grille schließlich trägt Philipp Hauß ein neckisch leichtes Kleidchen und wirkt darin sexy und schutzlos zugleich, sich selber und seiner Umgebung fremd, gleichsam aus dem Rahmen gefallen – es ist eines der nachhaltigeren Bilder dieser Inszenierung.

Die zentralen Erzählstränge über Insekten und Asiaten werden immer wieder gekreuzt von heimischen Durchschnittsmenschen, die neben oder über dem Imbiss "Zum Goldenen Drachen" wohnen. Alle sind sie unzufrieden und wollen, dass es wieder wird wie früher. Ein Verlassener wünscht, seine Ex hätte den Neuen nie kennengelernt. Ein Opa will nochmal jung sein. Ein junges Paar driftet auseinander wegen einer ungewollten Schwangerschaft. Diese Szenen sind erschreckend kühl und grausam, sind berührend gespielt, ein Spiegel unserer Gesellschaft, eigentlich weit interessanter als die China/Grillen-Parabeln.

Zopfdramturgie mit Cliffhangern

Wo es menschlich wird, konkret und nah an unserem Leben, reduziert sich Schimmelpfennig auf Andeutungen, er zappt rein und sofort wieder weiter. Viele kurze Sequenzen werden abgebrochen an den spannenden Stellen. Jetzt wird es interessant, denkt man, aber schon ist wieder die nächste Szene da. Eine Vorabendserien-Machart: die einzelnen Schicksale werden zweitrangig, dienen einer Zopf-Dramaturgie, der Cliffhanger hält die Zuschauer bei der Stange.

Schimmelpfennigs Stück spielt – technisch höchst versiert – mit diesen Montagetechniken und Mechanismen. Nur werden sie in der Inszenierung leider nicht befragt, sondern schlicht bedient – wie überhaupt Regisseur Schimmelpfennig (seine vierte Inszenierung) vielleicht ein bisschen zu sehr den Autor Schimmelpfennig (zwei Dutzend Stücke) bedient, den Erfolgsautor, der nicht nur viel, sondern auch gerne mit den gleichen Rezepten und Zutaten kocht. Aber wen mag das stören, solange es handwerklich so gut gemacht ist? Essen wir, solange es warm ist.

Studieren wir das Mittagsangebot im Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurant um die Ecke, und freuen uns, solange wir keinen fremden Zahn im Mund spüren – und alles so bleibt wie früher.

 

Der goldene Drache (UA)
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Roland Schimmelpfennig, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Amely Haag. Mit: Philipp Hauß, Johann Adam Oest, Barbara Petritsch, Christiane von Poelnitz, Falk Rockstroh.

www.burgtheater.at

 

Mehr lesen? Von Roland Schimmelpfennig stammt auch der Text zu Jürgen Goschs letzter Inszenierung Idomeneus im April 2009 in Berlin. Mit seiner Uraufführung des Stücks nach einem Motiv von Homer hatte Dieter Dorn im Juni 2008 das Münchner Cuvilliés-Theater wiedereröffnet.

 

Kritikenrundschau

Diesen höchst gelungenen Uraufführungsabend habe das Burg-Eröffnungswochenende gut gebrauchen können, konstatiert Margarethe Affenzeller im Wiener Standard (7.9.). Der Autor Schimmelpfennig habe dem Regisseur Schimmelpfennig einen Gefallen getan und ein Stück geschrieben, "das erst auf der Bühne seine Geheimnisse preisgibt (und auch einige für sich behält)". Zwar sei das Ergebnis fast ein wenig zu perfekt ausgefallen. In Kombination mit dem kühnen Ensemble ("wer will schon eine unbekannte Ameise in einem neuen Stück sein?") findet die Kritikerin das Ergebnis trotzdem ergiebig.

"Ein Katastrophenmärchen", eine "Tragödie, ein Gesellschaftsgaukelspiel, eine Komödie mit blutigem Untergrund", bespricht Gerhard Stadelmaier in der Frankurter Allgemeinen Zeitung (7.9.), die aus seiner Sicht sowohl "den geheimnisvoll festlichen Zauber des Theaters" wie "den kühlen Blick ins Gemachte des Theaters" bietet. Bei Roland Schimmelpfennig werde "die gnadenlose Ausbeutung rechtloser Migranten, die ein heißes Thema in der chinesischen Restaurant-Szene ist", nicht zum Politkitsch, sondern zu einer "Absurdität, die als Aufklärung Spaß macht und als Sujet erschüttert". Schimmelpfennig, "der Märchenpoet unter den jüngeren Autoren, der den Gegenwartsmenschen in seinen Stücken unter ihren Füßen und über ihren Hirnen immer sofort eine geheimnis- und rätselvolle Welt spendiert", bringe sein neues, nur aus Schnipseln bestehendes Stück, den "Goldenen Drachen", selbst zur Uraufführung und verhelfe ihm als Regisseur zu einem liebevoll-witzigen Ganzen.

Aus einem Trio sei nun ein Duo geworden, schreibt Peter Michalzik mit Blick auf die ausgesprochen fruchtbare Zusammenarbeit von Roland Schimmelpfennig, Johannes Schütz und Jürgen Gosch in der Frankfurter Rundschau (7.9.), doch der gemeinsame Geist lebe auch nach Goschs Tod in dieser Inszenierung weiter. Denn Schimmelpfennig habe es zusammen mit dem Bühnenbildner Johannes Schütz ziemlich gut hinbekommen, "sein Stück im Stil von Gosch zu zeigen. Nun hat Gosch diesen Stil ja auch mit Schimmelpfennigs Stücken entwickelt und warum sollte sich der Autor als Regisseur nun von etwas lossagen, woran er beteiligt war". Als Regisseur findet Michalzik Schimmelpfennig sogar erstaunlich souverän im Inszenieren seines Textes. Er lasse die Schauspieler dabei "etwas grober und auch komödiantischer agieren, als es Gosch, der Meister des Verhaltenen und Zurückgenommenen, vielleicht hinbekommen hätte. Aber er ist schon sehr nah dran."

Als "kleines, feines Meisterstück" lobt Chistine Dössel "Der goldene Drache" in der Süddeutschen Zeitung (7.9.), als "Sozialdrama über illegale Migranten und die Gleichgültigkeit im Tagesablauf der Welt", aber Schimmelpfennig "ist ein versierter Poet und tut einen Teufel, in die plumpe Realismusfalle zu tappen. Geschickt spinnt er seine Bezugsfäden, und die Fabel von der armen Grille und der Ameise nimmt immer plastischer und drastischer menschliche Gestalt an: Sie geht über in das Schicksal einer jungen Asiatin (...), die sich der Lebensmittelhändler Hans im Haus gegenüber als Sexsklavin hält und schließlich 'kaputt gemacht' wird von einem der nachbarschaftlichen Freier. Wie Philipp Hauß (als verschüchtertes Grillen-Mädchen im Seidenfähnchen) und Barbara Petritsch (als hornbebrillter Ameisen-Kittelmann) das spielen, ist so hochnotkomisch wie zunehmend beklemmend, und auch Christiane von Poelnitz, Johann Adam Oest und Falk Rockstroh spielen mit böse grundierter Verve gegen ihre jeweilige Geschlechter- und Alterszugehörigkeit an". So habe das neue Burgtheater mit Schimmelpfennigs Stück doch noch "dem prallen Leben auf den schmerzenden Zahn gefühlt – und in der kleinen Welt die große, globale entdeckt".

Ein "ziemlich starkes Stück" sah Norbert Mayer von der Wiener Tageszeitung Die Presse (7.9.) in Text und Inszenierung. Schimmelpfennig habe seinen Text fast ohne Schnörkel in Szene gesetzt, "Bühne und Kostüme (Johannes Schütz) sind simpel: Schwarze Seitenwände, weiße Rückwand, dort befinden sich die Utensilien und die Darsteller, die nicht spielen." Aus Mayers Sicht sind es besonders die fantastischen Passagen, die den Abend zum Funkeln bringen.

 

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