Das Auto, der Unfall und die Zeit danach

von Elena Philipp

Berlin, 9. September 2009. Rois raucht. Sie schaut. Und spricht: "Das Auto. Der Unfall". Teil Eins von Gero Troikes Spielzeiteröffnung im Prater der Volksbühne, Berlin, von ihm verfasst, selbst inszeniert. Drei weitere Teile folgen an diesem Abend der gedehnten Zeit: Zwei Einakter aus den "Kleinen Tragödien" von Alexander Puschkin – "Das Gelage während der Pest" und "Mozart und Salieri" – sowie Papagenos Selbstmordszene aus Emanuel Schikaneders Libretto der "Zauberflöte".

Teil Eins, Prolog: Sophie Rois im Monolog. Ein Autounfall, verbal wie mit der Kamera umkreist, in unterschiedliche Perspektiven zerlegt: "Welche Kraft liegt in der Zerstörung! Gesucht wird die neue Form", klingt es futuristisch an. "Ein anderer Punkt, der mich bewegt, ist der Verlust, der durch den Tod einsetzt." Sophie Rois moduliert den Text ganz meisterhaft. "Der Vorgang, den wir Ihnen gleich zeigen werden, ist vielschichtig und bedeutungsvoll." Spannung!

Als Autos noch Geschwindigkeit bestimmten
Der Dichter, zwei Frauen, der Fahrer auf dem Weg nach Paris, Künstler und Kraftfahrer sterben beim Unfall. Am 4. Januar 1960 – dem Tag, an dem Albert Camus und sein Verleger Michel Gallimard auf dem Weg nach Paris umkamen. "Es begann mit einem gewaltigen Knall. Großartiger Anfang." Ein geplatzter Hinterreifen, das Auto um einen Baum gewickelt. "Das Gefühl für Zeit verschiebt sich, die letzten Sekunden sind wie das ganze Leben." Tatsächlich, denkt man am Schluss dieses Abends: das Zeitgefühl, es ändert sich. Zweieinhalb Theaterstunden können sich wie die Ewigkeit anfühlen.

Rois tritt ab, und eine ganze Weile blickt man als Zuschauerin auf den räudigen Baum und das hölzerne Auto, die auf der Prater-Bühne stehen. Nichts passiert. Die Sekunden ticken davon. Bis man merkt, dass sich das Auto langsam, unmerklich in Bewegung gesetzt hat und in Zeitlupe auf den Baum zurollt, der ihm, als sich die Kühlerhaube des Holzgefährts schon stufenweise hebt, in Trippelschritten entgegenkommt. Der Crash – ein sorgfältiges Zerlegen des Fahrzeugs vom Bühnenbildbediensteten innerhalb der Konstruktion: Es klappt der hölzerne Kühler um, die Vorderachse knickt gemächlich ein, eine Tür kippt zögernd aus den Angeln. Die Freude des Publikums an der Mechanik ist ungebremst.

Papagenos Selbstmordversuch
Teil Zwei beginnt, "Das Gelage während der Pest". Am linken Bühnenrand wird eine hölzerne Häuserfront aufgeklappt, ein Tisch errichtet. Übergemütlich laufen die Bühnenarbeiter in Anzug und Hüten von rechts nach links, von links nach rechts. Das Gelage, eine traurig-statuarische Veranstaltung, in der das Leben der blassen Darsteller nicht gegen die Seuche anschäumt, sondern ihnen, diesen Marionetten eines formalen Prinzips, im Vorhinein entzogen scheint: Singen, Haare schütteln, Wasser aus dem Glas auskippen.

Text aufsagen. Die Bühne lebt, die Darsteller sind tot? Am interessantesten Bonn Park als stummer Gast, der durch's Fenster lugt, im Hintergrund die Hände faltet, als Sophie Rois, der krumme Kutscher, die jüngsten Leichen abzuholen kommt, sich ungebeten an den Tisch setzt.

Der Tod? Den plant im dritten Teil Salieri, fleißiges Kompositionstalent, für seinen unerreichbaren Kollegen Mozart. Das göttliche Genie muss sterben, damit die Handwerker der Kunst nicht ganz verzweifeln. Missgunst? Nein, nein, Salieri kennt sie nicht. Rois beugt sich schwer atmend über den entkernten Flügel, und als sie wieder auftaucht, da ist ihr Lügengesicht grün angemalt vor Neid. Dieser Künstler, er muss weg!

Tod und Leben, Kunst versus Handwerk
"Mozart" brüllt Rois' Salieri neidverzerrt, da steht der heitere Antagonist schon in der Sperrholztür: Anne-Ratte Polle, mit Wilhelm Busch-Tolle ein veritabler Max & Mozart, ist keck und fröhlich. Düster wird das Genie, denn seit ihm ein Unbekannter das Requiem in Auftrag gab, sieht er sich von einem "schwarzen Mann" verfolgt. Den geahnten Tod bringt ihm Salieris Giftbecher. Das Abschiedsessen der Komponisten ist der Höhepunkt des Abends. Es wird von einer Rembrandt'schen Funzel auf dem Tisch in expressive Schatten getaucht.

Wurde die Zeit im zweiten Teil bis zur Unerträglichkeit gedehnt, wird sie nun zerhackt. Komisch-grotesk und übergroß spielen Ratte-Polle und Rois Kasperltheater unterm Stroboskop. Da sinkt ein Mozart immer tiefer über seinen Teller, während ein überfroher Salieri mächtig mit dem Besteck klappert und selbstzufrieden kaut. Anne Ratte-Polles Wangen scheinen langsam einzufallen, als sie den Introitus aus ihrem, Mozarts, Requiem in einer tief bewegt pantomimisierten Pose miterlebt.

Bei Sophie Rois kommt jedes Augenrollen im Zuschauerraum an. Im zweiten Teil hingegen waren ganze Textpassagen kaum verständlich. So grausam sah man selten die Stars dem Ensemble vor die Nase gesetzt. Die einen sind Talente, die anderen Genies? Den Zuschauern wird halbgar aufgetischt. Wie in einem schlecht komponierten Musikstück werden die Themen – Tod und Leben, Kunst versus Handwerk – nicht durchgeführt, ist keine Struktur erkennbar. Eine Inszenierung muss nicht unbedingt eine große Idee vermitteln, aber ein wenig mehr Stringenz und inhaltliche Klarheit hätte diesen Dada-Abend vielleicht über den Rang eines blutleeren Spiels mit Formalia gehoben.

Vielleicht ein Anti-Manifest?
"Es braucht ein großes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten und keine Angst vor Gefühlen", steht in "Ein Auto. Ein Unfall". Vielleicht ist der Text ein Anti-Manifest? "Schauspielerei ist eine schöne Sache, wenn man das Glück hat, am richtigen Ort das richtige Stück zu spielen", rotzt Sophie Rois eine Textstelle selbstironisch auf die Bühnenbretter, und Sebastian König schüttelt beim Applaus den Kopf. Seinem Papageno wurde der Text gestrichen, bis auf einen unlustig gemurmelten Zweizeiler: "Der Vogelfänger bin ich ja. – Stets lustig. – Heissa. – Hoppsassa." Vorhang zu.

Gero Troike gibt seinem Neuanfangsstück einen Abschiedsuntertitel: "Adieu in vier Szenen von Puschkin, Schikaneder und Troike", und er zelebriert die Einladung an die Volksbühne, die er 1993 als Regisseur von Puschkins "Boris Godunow" verließ, als lustvolle Verweigerung. Höflicher Beifall, bei dessen Schwinden ein Anwesender ein "Buh" nachsetzt.

 

Gute Nacht, du falsche Welt
Adieu in vier Szenen von Puschkin, Schikaneder und Troike
Regie und Bühne: Gero Troike, Kostüme: Sabin Fleck, Musikalische Leitung und Geige: Uwe Hilprecht, Dramaturgie: Sabine Zielke. Mit: Luise Berndt, Sebastian König, Bonn Park, Anne Ratte-Polle, Sophie Rois, Mandy Rudski, Axel Wandtke und Lisa-Theres Wenzel.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr aus der Volkbühne? Im Sommer 2009 fand wegen Sanierungsarbeiten im Innern vor dem Theater das Agora-Projekt statt. Mikael Marmarinos hat dort Agora: Ein Chor Stasimon inszeniert. Antigone//Elektra gab es in der Regie von Werner Schroeter. Frank Castorf inszenierte Medea, während Jérôme Savary versuchte, Aristophanes' Vögel ohne Grenzen von der komischen Seite zu nehmen. Viel Sand gab es in Prometheus, von Dimiter Gotscheff inszeniert. Und ganz zuletzt beeindruckte Edith Clever in Mnemosyne.

 

Kritikenrundschau

"Außerirdische zu Besuch" heißt die Kritik von Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (11.9.) zu dieser, wie er schreibt, "seltsamen Veranstaltung". Alles in ihr wirke, als sei die Spielweise "aus der Zeit gefallen. Als wäre das Theater eine Erfindung auf einem fremden Stern, wo andere Zeit-, Raum- und Spielgesetze gelten. Das hat einen weltentrückenden Effekt: Man glaubt Außerirdische zu sehen, die versuchen, uns Menschen nachzuspielen." Besonders "eindrücklich" dafür sei die zweite Szene. Man erlebe Figuren, die "menschliche Schmerz- und Leidensgesten" nachahme, "allerdings immer so, als kennten sie die Vorlage, also uns Menschen nicht recht. Es ist wie ein Wühlen im Seelensack, ohne zu wissen, wonach man suchen soll." Dieser Abend sage "gute Nacht zu einer Welt, die es auf der Bühne weder als falsche noch als richtige gegeben hat. Es ist ein Adieu ins große Nichts."

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