Die Mechanik der Entfremdung

von Andreas Klaeui

Zürich, 10. September 2009. Ausweichen kann man sich nicht auf der Oktoberfestwiese. Nicht in diesem abgeschlossenen Raum im Neumarktsaal: Auf flachen Stufen läuft er zu wuchtigen Rückwänden hin; wer einmal hier drin ist, wird sich wieder und wieder begegnen müssen, in der einen oder andern Konstellation – und das Schicksal nimmt seinen mitleidlosen Lauf. Beziehungsweise "die Liebe höret nimmer auf", wie es in "Kasimir und Karoline" etwas zynischer formuliert heisst: Sei es mit dem oder jenem, sie bleibt unerfüllt.

Bühnenbild und Requisite sind abgebaut in der Zürcher Inszenierung wie Kasimir selbst, der Chauffeur: gestern noch am Steuer eines schicken Cabrios, heute arbeitslos. "Kasimir und Karoline" ist ja das Stück zur Wirtschaftskrise schlechthin; jener der 1930er Jahre, aber warum nicht in der heutigen Krise noch einmal die Fragen von Horváth stellen: nach den Mechanismen der Entfremdung und dem Tauschwert von Liebe; am Beispiel des Kasimir und seiner Karoline.

In der Spektakelgesellschaft
Sie will sich vergnügen auf dem Oktoberfest, er ist aus nachvollziehbaren Gründen etwas niedergeschlagen. Aus nichtigem Anlass entzweien sie sich, versteifen sich im Zwist, flüchten aus der einen Beziehung in die nächste, immer haben sie auch den Warenwert der Liebe auf dem sozialen Aufstiegsmarkt im Auge, befriedigend ist das alles nicht.

Und wie sich Horváths Figuren auf dem Münchner Oktoberfest tummeln, sind sie wohl auch in der globalen Spektakelgesellschaft nicht fehl am Platz. Hier gibt es allerdings kein "Dorf der Lippennegerinnen" mehr und keinen "Eismann mit türkischem Honig und Luftballons". Stattdessen farblose Leere, eine rigorose Setzung der Bühnenbildnerin Felicia Van Kleef. Kein Requisit außer ein paar Bierdosen und dem Keyboard, das zeitgemäßes Easy-Listening abspult.

Was sich hier ereignet, kann sich nur in der Sprache ereignen. Das ist schön und trifft tatsächlich direkt in den Kern der Horváthschen Dramaturgie, die sich ja präzis über die soziale Mechanik von Sprache entwickelt, über ihre Korruption in übernommenen Gemeinplätzen und abgelauschtem Jargon.

Das Pathos der Nüchternheit
Die Konzentration auf die Sprache verleiht der Inszenierung von Rafael Sanchez eine a priori durchaus einnehmende Strenge, so etwas wie ein Pathos der Nüchternheit, das vor allem gegen Schluss hin zu einem grossen, fast schon drückenden Ernst führt, wie man ihn von dem Regisseur kaum kannte.

Das Gravitationszentrum darin ist Kasimir, der Lieb- und Arbeitslose. Seine Empfindsamkeit versteckt Sigi Terpoorten hinter stiernackiger Unbeirrbarkeit; und Sanchez inszeniert ihn als Fremdkörper, ein nackter Mensch unter posierenden Selbstentblößern, das hat tragische Statur. Die Figur ist allerdings auch relativ rasch festgelegt und entwickelt sich im Lauf des Abends kaum noch.

Die andern (zum Teil in stark eingekürzten Parts) posen: ein Leben in Codes, eilfertig übernommenen Konventionen, in unseren Tagen vielleicht eher der Fernseh-Soap und Casting-Shows abgeschaut als Operetten und Groschenromanen wie noch zu Horváths Zeiten, aus zweiter Hand wie ehedem.

Ohne innere Richtung
Rafael Sanchez zeigt schön die Entfremdung, die Abwartehaltung, die Leerstellen. Und das – es muss auch diesmal wiederholt werden – schlichtweg phänomenale Schauspielerensemble des Neumarkttheaters füllt sie mit komödiantischer Verve. Dennoch bleiben alle sonderbar punktuell. Die Figuren haben keine innere Richtung; sie treten auf der Stelle. Sanchez lässt das "Abnormitäten"-Kabinett im Stück weg, kein Liliputaner-Statist tritt auf, kein Mann mit dem Bulldoggkopf.

Unversehens werden jedoch Horváths Figuren unter seinen Regisseurshänden ihrerseits zu einer Art Freakshow: ohne Einblick in das, was sie antreibt, bleiben sie exotisch und somit auch unverbindlich. Weniger als die Phänomenologie der Entfremdeten scheint den Regisseur die Mechanik der Entfremdung selbst zu interessieren, die fatalen Mechanismen einer konventionellen Selbsttäuschung, zu denen Horváths Stück allerdings ebenfalls einen Kommentar abgäbe.

 

Kasimir und Karoline
Ein Volksstück von Ödön von Horváth
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Felicia Van Kleef, Kostüme: Ursula Leuenberger.
Mit: Alicia Aumüller, Rahel Hubacher, Yvon Jansen, Jörg Koslowsky, Thomas Müller, Jens Rachut, Sigi Terpoorten.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr Horváth? Johan Simons zeigte seine Inszenierung von Kasimir und Karoline beim Hellenic Festival 2009, Simone Blattner inszenierte das Stück 2008 am Schauspiel Frankfurt, Stephan Kimmig ebenfalls 2008 am Thalia Theater Hamburg und Julia Hölscher am Theater Magdeburg.

 

Kritikenrundschau

"Mit diesem Horváth ist der Neumarkt-Bühne ein guter Saisonstart gelungen," schreibt Wolfgang Bager für den in Konstanz erscheinenden Südkurier (12.9.) Und das, obwohl seiner Ansicht nach Rafael Sanchez' Inszenierung auf den ersten Blick alles fehlt, was ein Horváth-Stück braucht. "Volksfeststimmung, Rummelplatz, und auch diese horváth-typische gesteltze Dialektfärbung, jenes Künstlich-Volkstümliche, das auch ganz schlichte Charaktere zu großen tragischen Helden macht. Nichts von alledem. Stattdessen eine leere Bühne." Doch dies ist gerade die Crux für Bager, dass Sanchez diese gespenstische Horváth-Leere auf der kleinen Neumarkt-Bühne sehr eindrucksvoll werden läßt. "Und plötzlich hören wir die Sprache derer, die man heute gerne als Prekariat bezeichnet, die wir aus den menschenverachtenden Nachmittags-Talkshows aus dem Fernsehen kennen, die aus ihrer Artikulationsunfähigkeit unbewusst eine eigene Stilform entwickelt haben. Aus dem unbeholfenen Kunst-Bairisch, das Horváth, seinen rührend-grausamen Geschöpfen mitgegeben hat, schreit und zuckt heute der Rap." Und: "Die Spielsucht des jungen Ensembles und die intelligent eingesetzte Fantasie der Regie könnten aus dem kleinen Theater wieder eine interessante Alternative zum mit viel Geld und großen Namen bestückten Apparat des Zürcher Schauspielhauses machen."

Dieser erste große Abend am Neumarkt sei ein "richtig guter", schreibt Simone Meier im Zürcher Tagesanzeiger (12.9.), die den Horváth-Klassiker hier ausgesprochen "ergreifend" in Szene gesetzt fand. "Die Gags und die Metaebenen, die dem Neumarkt sonst so lieb sind, bleiben rar in dieser sehr textgetreuen Arbeit, fast vermisst man sie ein wenig, weil es so beklemmend ist und weil man tatsächlich Angst bekommt um die Widerstandskraft der Emotionen angesichts einer zerbrochenen Ökonomie."

 

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