Germania Song - das Performer-Duo SIGNA versammelt in Leipzig einen adeligen Clan
Flackernde Birnen
von Ralph Gambihler
Leipzig, 17. September 2009. "Bitte konzentrieren Sie sich immer auf das Wesentliche!", sagt die Dame im blauen Abendkleid mit schwerem ungarischen oder slowenischen Akzent. Keine Ahnung, was das Wesentliche sein könnte in den kommenden sechs Stunden. Klar ist vorerst nur, dass jetzt gleich Kärtchen zu ziehen sind. Klassisch eingekleidete Dienstmädchen mit Rüschen wie aus einem Kostümfilm stehen dazu artig bereit. Jeder "Zuschauer" zieht drei Kärtchen. Auf den Kärtchen stehen Vornamen, die ein gewisses Parfüm verströmen wollen, Felice, Denver, Elian usw., wobei das vorerst Wesentliche sein könnte, dass auf allen Kärtchen als Familienname "von Unland-Deuthen" verzeichnet ist. Oder ist das die erste Finte? Jedenfalls: Wir sind wir bei den Vons.
Im Garderobenfoyer empfängt den Besucher dann ein habsburgisches Dämmerlicht. Der Raum ist leicht angenebelt, Girlanden von weißlichen Luftballons hängen rechts und links zwischen den Säulen, auf dem Boden glitzert Edelkonfetti. Man steht zunächst eher unbehelligt herum, die Rätselwelt hat es nicht eilig, ihre Fäden auszuwerfen. Einen richtigen Ball soll es geben, in der Ankündigung wurde um festliche Kleidung gebeten, bei Turnschuhmillionären sind wir nicht eingeladen.
In obskuren Hyperrealitäten
Auf der Treppe erscheint nun, von oben kommend, ein ältliches Paar und nimmt hinter einem Mikrofonständer Aufstellung, die gravitätische Haltung wie auswendig gelernt. Sichtlich handelt es sich um Maximilian von Unland-Deuthen und seine Gloria, die Gastgeber dieser schwülen, von Streichergesäusel narkotisierten Zusammenkunft. Maximilian spricht von Freude und Leidenschaft und irgendeiner bösen Sache. Kaum sind die Sätze ins Mikrofon gesagt, hakt sich eine junge Schöne in großer Abendgarderobe bei mir unter: "Darf ich Ihnen das Haus zeigen!" Sie darf.
Dass es in den Performance-Installationen des dänisch-österreichischen Duos Signa und Alfred Köstler tendenziell obskur zugeht, hat sich herumgesprochen, spätestens mit dem großen Erfolg von "Die Erscheinungen der Martha Rubin" (2007, Einladung zum Theatertreffen 2008). Die Konstruktion begehbarer und interaktiv erlebbarer Hyperrealitäten ist das Markenzeichen der beiden. Stets haben sie dabei "Bühnenbilder" erarbeitet, die aus einer Fülle akribisch arrangierter Objekte, keines neuer als Baujahr 1984, zusammengesetzt waren. Das Erzeugen von Illusionen funktionierte im Grunde wie eine Ausstellung, der Leben eingehaucht wurde.
Wo Mädchen muffig walten
Das ist in Leipzig etwas anders. Wer die neueste SIGNA-Simulation "Germania Song" betritt, bewegt sich in wohlbekannten Räumen. Garderobenfoyer und Saalfoyer samt Treppe und kleinem Zwischenfoyer wurden lediglich leicht dekoriert, das Interieur ist im Grunde unverändert. Am stärksten fällt die etwas schummrige Beleuchtung auf und das Flackern einzelner Birnen, das merklich um sich greift. Der Schritt in das Paralleluniversum der Geschichte, der Eintritt in das unbekannte soziale Biotop wird damit zum Riesenschritt. Eigentlich ist der Theatergänger ja in seinem Revier.
Möglicherweise ist dieses Element der Desillusionierung ein Problem, denn das erzählerische Arrangement bleibt einem bis zum Schluss fremd. Wer sich ihm hingeben kann, muss eine sehr solide Rollenspieltauglichkeit mitbringen. Eigentlich steht man meistens herum und tauscht sich über das aus, was einem gerade wieder vorgegaukelt worden ist. Oder man holt sich im Zwischenfoyer, wo die Dienstmädchen muffig walten, das nächste Glas Wasser oder Sekt. Oder man geht treppauf, treppab, weil man sich an die drei Kärtchen in der Tasche erinnert, deren Namensträger zu finden sind. Das war der Auftrag, das "Wesentliche".
Der Ruch der Restauration
Die aufgetischte Geschichte scheint aus einem schwerblütigen Schauerroman entnommen, in dem sich wahrscheinlich auch befrackte Herren duellieren. Die Unland-Deuthens, so heißt es, haben schon vor 20 Jahren einen solchen Ball gegeben, der aber böse aus dem Ruder lief. Etwas Schreckliches ist passiert, eine Tragödie, deren Tragik immer wieder beschworen, aber natürlich nicht erhellt wird, es soll ja spannend bleiben. Von eingesammelten Seelen ist die Rede, von Liebe, von neuen Körpern und vom Traum der Unsterblichkeit. Und jetzt ist man zusammen gekommen, um alles zu rekonstruieren.
Der Kontext 1989 wird angetäuscht. Mit dem Mauerfall hat "Germania Song" so viel zu tun wie das Wetter mit dem Papierpreis. Allenfalls hängt ein Ruch von Restauration in der Luft, eine alte Geschichte von oben und unten, die klingt, als sei die Klaviatur verrutscht. Irgendwann, nachdem der Abend sich zunächst gemächlich zerdehnte, geht das Drama auf einmal los. Gellende Schreie sind zu hören, die Mundwinkel der Herren sind plötzlich blutverschmiert, in den Dekolletees der Damen mehren sich die roten Abdrücke. Zum Schauerrepertoire gehören zudem das kollektive Erstarren und die individuelle Kussattacke, die zu erdulden, zu genießen oder abzuwehren ist, je nachdem.
SIGNA spielt in "Germania Song" mit billigen Effekten und Trash-Elementen und balanciert dabei nahe an der Persiflage dieses Genres. Der Reiz der Performance-Installation, das Eröffnen neuer Erfahrungsräume im Zwischenreich von Fiktion und Realität bleibt diesmal eine eher nebensächliche Angelegenheit. Beklemmende Erfahrungen sind in diesem Kunstlabyrinth rar, dafür kann man seinen Smalltalk-Horizont erweitern, immerhin.
Germania Song (UA)
Eine Performance von SIGNA
Konzept: Signa & Arthur Köstler, Regie: Signa Köstler, Ausstattung: Thomas Bo, Signa Köstler, Licht/Ton/Video: Arthur Köstler.
Mit: Franz-Josef Becker, Michael Behrendt, Stefan Chüo, Martina Deltcheva, Udo Eidinger, Linda Elsner, Theresa Elstner, Erich Goldmann, Ana Valeria Gonzalez, Manuel Harder, Anne Hartung, Shin-May Ho, Dominik Klingberg, Johannes Köhler, Casper Emil Koeller, Arthur Köstler, Signa Köstler, Thomas Kretzschmar, Ilil Land-Boss, Christian Mahlow, Paul Matzke, Stefanie Mühlhan, Thomas Bo Nilsson, Yulia Magdalena Yanez Schmidt, Helga Sieler, Sebastian Sommerfeld, Jenny Steenken, Karoline Stegemann, Klaus Unterrieder, Tabea Venrath, Irma Wagner, Manuel Washausen, Miriam Weißert, Mareike Wenzel u. a.
www.centraltheater-leipzig.de
www.signa.dk
SIGNA und nachtkritik.de haben schon länger eine enge Beziehung, rezensionswesenmäßig gesehen. Nachtkritiker waren 2007 bei Den Erscheinungen der Martha Rubin in Köln, die 2008 auch zum Theatertreffen geladen wurden, waren im November 2007 im Dorin Chaikin Institut und im Juni 2008 in Odessa dabei, machten sich im September 2008 in Graz mit der Komplex-Nord-Methode bekannt und schauderten im April diesen Jahres in Köln angesichts von Signas Hades-Fraktur.
Kritikenrundschau
"Eine faszinierende, sinnliche Erfahrung, als sei man in ein Life-Rollenspiel geraten", protokolliert Nina May in der Leipziger Volkszeitung (19.9.2009) Das funktioniert aus ihrer Sicht vor allem, "weil auch die Laiendarsteller - einige von ihnen bekannt aus Leipziger Studententheatergruppen - sicher in ihren Rollen bleiben und die Impulse zum Spiel geben." Das Ambiente lässt sie an Quentin Tarrantino und die Rocky Horror Picture Show denken: gäben die gemeinsam ein Fest, es würde etwa wie in Leipzig bei Signa aussehen.
"Und was das Ganze nun mit Germania und 1989 zu tun hat?", fragt Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (19.9.2009). Es gehe um die Rekonstruktion einer kollektiven Erinnerung, "um die Wiederherstellung eines in zahllose Scherben zersplitterten Bildes. Diesen Ansatz sowie die sektiererische Atmosphäre einer Gesellschaft, die sich im Besitz einer allein selig machenden Wahrheit wähnt und im Moment ihres vermeintlichen Triumphes zugrunde geht, könnte man durchaus als Analogie zum Ende der DDR verstehen." Dass die politischen und wirtschaftlichen Koordinaten – wie auch in früheren Signa-Selbstversuchen – freilich in eine dionysische Obszönität übersetzt werden, dass statt existenziellen Drucks nur dekadenter Überdruss transportiert wird, nimmt dem Abend aus Hillgers Sicht die Spitze. "Am Ende des Abends entdeckt man vielleicht einen roten Fleck auf dem gedeckten Tuch des Anzugs. Aber keine Angst: Das lässt sich spurenlos rauswaschen."
Enttäuscht zeigt sich Hartmut Krug im Deutschlandradio (18.9.2009): "Dieses Theater steht formal und inhaltlich auf dem falschen Bein und tritt auf der Stelle, und die Ballgäste stehen betreten daneben, " meint er. Das, was manche Zuschauer bei früheren Performances von Signa so fasziniert habe, dass eine eigene, zwischen Theater und Wirklichkeit changierende Wirklichkeit geschaffen wurde, gelingt aus seiner Sicht dieses mal nicht. "Vielleicht, weil nicht mit Realitätspartikeln, sondern mit vorgefertigtem Genre- und Kinomaterial gespielt wird, und weil der Spielort eben ein Theater ist. Richtig hinein in diesen "Germania Song" kommt der Zuschauer nicht, und auch zwischen das Vor- und Mitspielangebot von Signa, weil nicht auch mit seinen Empfindungen und seine Realitätserfahrungen gespielt wird." Da hilft auch nicht, dass eine der jungen Damen Krug "voller leidenschaftlicher Verzweiflung mit ihrer schlabbrig-nassen Zunge überfallartig das Gesicht nässt, ob einer der untoten Männer sich beim neben mir stehenden Zuschauer über dessen Ohr zu anderen beknabberbaren Körperpartien vor zu arbeiten sucht, oder ob sich ein Tanz- oder Gesprächspartner im Rollenspiel mit jedem Satz mit geheimnisvollen An- und Bedeutungen aufbläht: es bleibt, nun ja, wenig aufregendes Theaterspiel."
"Ich war in Leipzig und habe einen Schauspieler erschossen", berichtet Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 21.9.2009), "direkt in die Brust, aus zwei Metern Entfernung. Er hat mich angestarrt, durch sein weißes Hemd sickerte dickes Blut. Dann sank er nieder. Ich warf ihm die Pistole auf den Bauch und verließ den Tatort rasch. Die frische Nachtluft danach war angenehm." Worum es in der gesamten Geschichte um den "Germania Song" aber gehe, hat er erst nach einer Stunde begriffen: "Eine Zofe hat es mir beim Schnaps erklärt." Dennoch plaudere und langweile man sich meistens gediegen. Man plaudert und langweilt sich gediegen, "weil die Grundsituation nicht zündet: Die erzählte Geschichte bleibt zu konfus, um mehr als bloße Behauptung zu sein, die Zuschauerrolle immer erhalten. Blut fließt, eine Zofe heult, eine traurige Dame zeigt ihre Brüste. Alles geschieht ohne Notwendigkeit, nie verdichtet sich die Atmosphäre zur Unabweisbarkeit, und mit dem Herbst 89 hat dieser Ball auch nichts zu tun. Aber ich habe einen Schauspieler erschossen. Das zumindest hatte ich vorher noch nicht probiert."
"Also: ein großer Spaß," sagt hingegen Stefan Petraschewsky in der Sendung MDR-Figaro (19.9.2009) Trotzdem findet er den Abend unterm Strich mit sechs Stunden zu lang. "Aber man kann früher gehen und verpasst nicht wirklich was, weil die ganze 'Rekonstruktionsgeschichte' ziemlich simpel, platt und laut ist." Ihm ist auch nicht klar, warum die Performance 'Germania Song' heißt - und das ganze hat für ihn auch nichts mit dem Herbst 89 zu tun - obwohl das am Anfang mal gesagt werde. "Aber vielleicht ist das gerade der Witz - denn ansonsten hat ja gerade alles um uns rum mit dem Herbst 89 zu tun hat - aber das sind alles Nebensächlichkeiten - dieses Miteinanderspielen im ganz Kleinen - beim gegenseitigen Geschichtenerzählen, Fragenstellen und Fragenausweichen - das sind hier die Hauptsachen, für die genug Spielraum da ist, wenn man sich diesen Spielraum einfach nimmt - und eben nicht nur mit verschränkten Armen in der Ecke steht."
Peter Laudenbach, er schreibt in der Süddeutschen Zeitung (25.9.2009), musste angesichts der "Publikums-Bespaßung" durch Signa an den dicken Römer in "Asterix bei den Römern" denken, der immer wieder ruft: "Orgien, Orgien, wir wollen Orgien!" So "bieder und harmlos, so schnell vergessen und unfreiwillig komisch wie diese Comic-Figur sind die Signa-Figuren" mit der "grenzenlosen Öde ihrer Exzess-Simulationen". Laudenbach sieht das Theater bei Signa zum "Erlebnis-Zoo" verkommen, einem "Themenpark, in dem sich der Event selbst genügt und jeder noch so schale Reiz zur Sensation aufgebläht wird". Bei Signa handele es sich um die "kunstgewerbliche Antwort" auf die These der "Erlebnisgesellschaft"“: Die "Vorstellung, dass das Theater ein Ort der gesellschaftlichen Selbstreflexion ist, an dem große Konflikte verhandelt und durchgespielt werden, ist einer regressiven Freude am diffus ironisch gefärbten, aber im Kern sinnfreien Spiel für eher schlichte Gemüter gewichen."
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Man kann nur das sehen, wofür man Systeme der Wahrnehmung ausgebildet hat- wahrscheinlich sind sie hier im Kriminalstatus steckengeblieben. Wer Signa oder ihre Projekte kennt-erkennt, weiß, dass da vielleicht noch etwas anderes gemeint ist.
Am Mittwoch mehr, wenn ich auch daran teilgenommen habe.
Es gab reichlich Sekt, von einer netten Dame wurde mir ein Whisky angeboten und an einer anderen Stelle konnte man noch vom Vodka naschen.
Danke Signa, für diese unvergesslichen Stunden.
Frodo geht natürlich nicht zum Essen ins Theater, nie käme er darauf.
Auch findet er nicht, dass der Kriminalstatus der Wahrnehmung etwas Niederes sein, einige der besten Dramen sind Krimis. Nur war er eben enttäuscht von Signa, weil bei denen doch immer so wahnsinnig viel mehr dahinter sein soll. Wie hatte er sich gefreut - Signa in Leipzig! Und dann war er eben enttäuscht und mußte an das Märchen vom Kaiser und seinen neuen Kleidern denken. Diesem nackten Monarch sagt ja auch lange niemand, dass er nichts anhat ... Ein kleiner Junge tut es dann, wenn ich nicht irre.
Und bevor jetzt wieder das theoretische Erläutern beginnt: ich bin der altmodischen Ansicht, dass Theaterinszenierungen für sich stehen können müssen. Wer mehr drin sieht, Theorie, Geschichte, Metaebene - gerne, dann spricht man mal im Seminar drüber oder im Pilot, ich bin gerne dabei. Aber diese Nummer im Centraltheater, die war wohl nichts. Viel Spaß trotzdem!
Man muss sich auf den Abend einlassen können, erst dann vermischen sich Realität und Fiktion. Man erlebt unglaubliche und unvergessliche Momente. Wer dass nicht kann, wird sich vorkommen, wie ein Gast auf der falschen Party.
Unvergesslich war mein Treffen mit zwei Zofen in einer schmierigen und völlig runtergekommenden Bar außerhalb der Vorstellung mitten in Leipzig! Ich konnte zuerst gar nicht glauben, dass die Performance dann auch draußen weitergeht und die beiden Damen tatsächlich zu unserem heimlich vereinbarten Treffen erscheinen würden.
Schnitzelessend erzählten sie von ihren Leben bei den von Unland-Deuthens und baten mich ihnen Pässe zu besorgen!
After that my night was incredible. I could also speak in spanish with two Zofen and it was great to see all this party and luxury family with another point of view, if I knew that this meeting in a Bar in the city was for real I would be sure there. I think this was my problem all the time, I didn´t know how far this fiction could go. Today back in my house I see that this "fiction" is still in me and will be for a long time.
If someone from Signa reads this, I just want to say thank´s for the evening and I hope to see you again in another fiction real world. Greetings from a new fan!
Umsetzung: zu wenig Fiction (Denn es geht leider nur um sich einfühlen oder nicht - zu wenig)
Fazit: Tarantino und RHPS bestimmt nicht. Ich denke, wie ich das von Jemand hörte, Kubrik wäre richtig gewesen (Oder Inarritu)
fakt ist: ich glaube, als darsteller hätte ich enormen spaß gehabt an dieser so called performance teilzunehmen. Ich brauch einfach eine art aufforderung, die mich legitimiert, mich darauf einzulassen. als besucherin kann ich das nicht, weil mein kopf mir ständig sagt, ein dritter säße mir im nacken und beobachte mein verhalten. ich muss da solange reingezogen werden, bis mir nichts mehr peinlich ist. ich will jemanden, der mich von hinten packt, mir die augen verbindet und mich so lange küsst, bis ich es tatsächlich glaube.
dennoch kann ich mich an die ersten minuten erinnern, in denen ich, gebannt von der schönheit einer frau, lange vor ihr stand und sie anstarrte. dann wurde es mir uangenehm, weil ich dachte: was denkt sie wohl. und bin gegangen. kurz darauf habe ich bekannte getroffen und wir sind wieder zu der frau gegangen, diesmal war es nicht so unangenehm. wir standen zu dritt vor ihr und ich fand sie einfach sehr schön und dann hab ich mich selbst nciht mehr verstanden. sie war aus plastik. und weißt du, dieses erste irritationsmoment in dem ich von selbst, ohne aufforderung, etwas für so real gehalten habe, hätte ich gern den restlichen abend auch gehabt. ich fand es sehr unangenehm, als plötzlich jimmy kam, um uns unseren begleiter_innen zuzuweisen. und weißt du, was daran unangenehm war: DASS ich es nciht angenehm finden konnte. mir hat das natürlich gefallen. da kommt jemand und sieht gut aus. und der blickt dir in die augen, so dass du nichts anderes kannst, als dich angesprochen zu fühlen. mit einer contenance blickt der, die ich sonst nie erlebe, und dabei geht es um mich. er schaut mcih so lange an, bis ich wortlos verstanden habe, was er von mir erwartet undsoweiter. das sind unheimliche, sind intime begegnungen, die einen sehr starken eindruck auf mich machten. mehr als gern hätte ich mich in dieser begegnung wohl gefühlt, zumindest hat "das ensemble" an diesem abend vieles dafür getan, dass ich das kann. aber ich selbst hab mich davon abgehalten. mehr gibt's dazu gar nicht zu sagen. es gab punkte, an denen ich völlig die zeit vergaß. und es gab punkte, an denen ich einfach traurig war, wie kaum zuvor in meinem leben. signa hat in diesem sinne einen starken eindruck, eine stimmung in mir hinterlassen, die immer wieder zu verteidigen/hinterfragen/beschuldigen versucht: warum zum teufel ich nicht einfach mitmachen konnte!
In der Kapelle erschien eine verheulte Martha Rubin, die eine sakrale Stimmung verbreitete, aus der einige Mitmach-Zuschauer eine von Grabesluft umwehte Atmosphäre erzeugten. Ich verspürte Lust, diese heilige Valium-Szenerie zu sprengen. Rock 'n Roll now! Aber dann wäre ich wohl totalitär gewesen.
Die Leipziger sind zu beglückwünschen, wenn dort wenigstens ein paar Pseudo-Märchenprinzessinnen herumlaufen. Dann kommt vielleicht so etwas wie ein Flirt zustande, die Fiktion eines "sexual intercourse" (Signa-Vokabular). Wer sich aber von Signas Akteuren einschüchtern lässt, ist selbst schuld.
irgendeine art streichelzoo mit stromstoss-möglichkeit.
möchte noch hinzufügen das das ganze ein hauch von peepshow umweht.
aber erstens: wir haben heute ja gesellschaftlich und kulturell ein achtziger revival, also paßt das hier ganz gut dazu.. und zweitens: ich mußte dann beim betrachten der arbeit zugeben, daß es nochmal etwas anderes ist: es ist eben NICHT theater zum anfassen. denn ich werde nicht gezwungen. es gibt klare regeln. sehr abgezirkelte bereiche, es ist nicht eins zu eins nachkopierte wirklichkeit wie bei diesen second life geschichten. es wird immer wieder verdeutlicht, daß es eben doch kunst sei..ein museum, eine fiktion..
es gibt ersatzessen, falsche perücken, falsche pistolen. bei martha rubin sentimal-kitschige wohnwägen (so reist heute kein sinti mehr)..und es gibt falsche biographien..am anfang dachte ich immer: jaja, erzähl mir mal was, ich glaube dir kein wort..aber je länger der abend wurde z.b. bei germania song, desto müder wurden auch meine abwehrmechanismen: und auf einmal begann der sog zu wirken,eine form des beteiligtsein, der aufgabe der kontrolle, ich begann mitzumachen,und fiktion und realität verschwanden für momente.und: ist unsere umwelt nicht genauso gestrickt?
die medien-wissen wir denn immer, wer angela merkel ist...ich kenne sie und ihre geschichten und habe noch nie mit ihr geredet, allenfalls die hand geschüttelt..aber wenn demnächst die angedrohte, per internet virtuelle bombe losgeht von bin laden, den ich auch "gut kenne"-?, weil angela die truppen nicht abziehen will.. dann bin ich vielleicht wirklich tot.. im monent ist es aber genauso fiktion, wie wenn der signaheld neben mir beiläufig sagt, erschieß mich mal bitte..und ich ihn ungläubig ansehe und denke, der spinnt, das ist ja nur ne theaterpistole.. und trinke mein sektglas aus, das ich widerlich finde, aber es gibt gerade nichts anderes..und ich werde in einen gefühlsschwampf gezwungen,der mir im sicheren sitz aus der theaterloge heraus nicht hochkommt, die da vorne auf der bühne sind allenfalls in ihrer artifiziellen kunst zu bewundern..
und doch passieren diese momente in leipzig auch: es ist hohe kunst, was ein manuel washausen z.b. da mit mir anstellt, er überzeugt mich aus der nähe, er spielt extrem glaubhaft und erzählt die absurdesten geschichten..und geht dennoch noch nebenher auf mich ein, das muß ein spieler auf der bühne nicht, er ist viel weiter weg, auch wenn er mal für fünf minuten die vierte wand durchbricht.. hier wird sie für sechs stunden - oder sogar für sieben tage durchbrochen.. und irgendwann auch in mir.-
war ich doch neulich mal auf einem realen prominentenball.. und die menschen waren dort mindesten genauso absurd und künstlich mit ihren botoxspriten,zigarren und dicken macht-und erfolgs-geschichten.. und ich sah dort virtuell die pistolen hinter den brillen, in den falschen lächeln und höflichkeiten in den köpfen.. und das blut im neid und der versteckten angst vor paparazzi, die statussorgen verbunden im normalen herzschmerz..- und war plötzlich überrascht und froh, dies in leipzig mal "real" zu sehen-auch wenn es theaterblut war und nur schauspieler, die ehrlich mit in herzhöhe "verbluteten abendkleidern ihr "wahres" gesicht zeigten...nein..man muß nur die richtigen kreise kennen, herr l. und die symbole richtig deuten..mit verträumten augen und mut, den eigenen engstirnigkeiten ins auge zu sehen, dann funktioniert der abend...-
ich wünsche signa und co durchhaltevermögen und richtig gute künstler, die mitmachen..denn, was stimmt:man muß ein verdammt guter und offener schauspieler und zuschauer sein, um das sechs,zwölf, dreihundert stunden nonstop durchzuhalten ohne selbst durchzudrehen...
danke für die tolle erfahrung!
Es liegt eindeutig wie bei den anderen SIGNA-Projekten, am Zuschauer. Wie weit lasse ich mich darauf ein? -Was möchte ich erfahren? Möchte ich mitspielen? Baue ich eine eigene Figur auf oder bleibe ich bei mir, erfinde Geschichten, bin kopflos ehrlich oder sehe mir das Theaterstück nur an, blocke ab? "Theater möchte ich es nicht nennen." Es ist mehr. Ob nun eine Performance, ein Schauspiel zum Anfassen, eine Installation. Von alledem etwas und noch mehr. Es ist SIGNA.
Jeder Zuschauer der zehn Abende hat anderes zu sehen und hören bekommen. Doch letzten Endes gab es einen Schluss, fast. Die Absprachen zwischen den Darstellern waren vielleicht nicht so klar, es war durchschaubar bis an welchen Punkt die Geschichte der Familie von Unland-Deuthen bereits geschrieben wurde. Der jeweilige Abend, die Rekonstruktion führte oft zu Extremsituation, für die Darsteller und die Zuschauer. So manches Mal hätte man sich gewünscht, dass auch der Zuschauer ein unter SIGNAs Schauspielerin genutztes Codewort sagen und damit das Geschehen stoppen kann. Kann man doch wegsehen. Wegsehen wenn Liter an Theaterblut fließen. Wegsehen, wenn tatsächlich in die Eingangshalle gepinkelt wird. Wegsehen wenn Vergewaltigungen von Menschen und Puppen dargestellt werden. Oder eingreifen? Was möchten die Künstler uns damit sagen? So einiges. Doch interpretiert wird nicht.
Sie beschäftigen mich weiter die Bälle, die Leidenschaft, die Schönheit, die Unendlichkeit, das Massaker. Und besonders eine Gegebenheit nach einer Vorstellung. Am Tag zuvor entschied sich ein Zuschauer einzugreifen. Er spielte mit. Er hatte Wut auf die anderen Gäste, die dies nicht taten. Er wollte die 13jährige Lilly retten, die von ihren Brüdern vergewaltigt wurde. Ein Ehrenmann.
Im wahren Leben hätte er nicht eingegriffen, so sagte er, denn da "bekommt man aufs Maul."
Punkt.