Theaterplanet Avignon

von Dorothea Marcus

Avignon, 13. Juli 2007. Auf dem Vorhof des Papstpalastes hängt einsam eine kleine, rote Petroleumlampe. Es ist eine ewige "Flamme des Widerstands", die rund um die Uhr, insgesamt 507 Stunden lang, von zwei Freiwilligen bewacht wird, damit "eine alternative, sensible, subversive und humanistische Kultur" überlebe – jeder kann sich einschreiben.

Es ist eine Aktion der Intermittents, jener französischen Theaterkünstler und Bühnenarbeiter, die 2003 das legendäre Festival von Avignon sprengten, weil die Bedingungen für den Empfang der speziellen Künstler-Arbeitslosen- versicherung verschärft wurden. Ein Drittel der Künstler, sagen die Intermittents, sei seit dem neuen Gesetz aus dem System ausgeschlossen worden.

Neue französische Kulturministerin speist mit Berlins Regierendem
In Avignon sind sie dieses Jahr zum tapferen Häuflein geschrumpft, die Lampe ist bis auf die Wachen meist verwaist. Dabei hat der neue Präsident Sarkozy gerade eine neue Kulturministerin ernannt: Christine Aubanel. 1980 hat sie noch selbst Theaterstücke geschrieben und müsste eigentlich wissen, wie man sich als freie Theaterfrau fühlt. Doch als sie am Sonntag in etwas zu legerer Garderobe (wie die Regionalzeitung Midi Libre streng notierte) in Avignon weilte, wollte sie die Intermittents noch nicht einmal persönlich sprechen. Statt dessen sah sie das Auftaktstück im Papstpalast, eröffnete vier Festival-Ausstellungen und aß mit dem Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit zu Mittag. Vermutlich wird ohnehin nichts entschieden, ehe Sarkozy sich über seine Kulturpolitik klargeworden ist. Dass es zu einer Rücknahme der Verschärfung kommt, glaubt ohnehin niemand mehr.

Wurzelbehandlung für das Theater
Auch auf künstlerischer Ebene begann das 61. Festival von Avignon bescheiden. Zwar jubeln die örtlichen Zeitungen über die "Rückkehr zu den Wurzeln des Theaters" nach den Skandalen der letzten Jahre. Endlich ist ein französischer Regisseur künstlerischer Beirat, der 40-jährige Frédéric Fisbach nämlich, der nächstes Jahr in Paris das neue Kulturzentrum "104" auf dem Gelände des ehemaligen städtischen Begräbnisunternehmens eröffnen wird. Das Departement Île de France hat zur Feier des Tages eine Extraportion Geld ausgeschüttet.

Aber das, was zur Eröffnung im majestätischen Ehrenhof des Papstpalastes im eiskalten Mistral gezeigt wird, enttäuschte Zuschauer und Zeitungen dann. Der französische Autor Valère Novarina hat mit "Der unbekannte Akt" eine versponnene Sprachakrobatie und phonetische Bewegungszauberei geschrieben und selbst inszeniert. In den bunten Fantasiekostümen stecken keine Charaktere, sondern Allegorien mit Namen wie "Nihilman" oder "Gegensubjekt", die Wortfolgen und Sprachspiele aneinander reihen: eine Hommage auf die Schönheit und anarchische Kraft von Sprache, die am Anfang von allem steht.

Castorfs Selbstzerstörung
Doch selbst wortverliebten Franzosen ist das für die Dauer von zweieinhalb Stunden zu ornamental und sinnfrei. Die Stuhlreihen des majestätischen Ehrenhofs leeren sich diskret, aber stetig. Auch Frank Castorfs Céline-Inszenierung "Nord", die schon in Wien Premiere hatte, kommt nicht gut an: In der Tageszeitung Le Monde gerät Castorf sogar in den Verdacht der Nazi-Verharmlosung, und man ist sich einig, dass der berühmte Direktor der Berliner Volksbühne sich in Selbstzerstörung und Chaos erschöpft hat.

Frédéric Fisbach gehört nicht zu den bekanntesten Regisseuren Frankreichs. Im textgläubigen französischen Theater steht er für das Experimentelle: er inszeniert gerne an ungewöhnlichen Orten, auf Bahnhöfen, in Supermärkten oder Museen. In Japan entstand 2002 "Die Wände" von Jean Genet. Fisbach inszenierte das als unspielbar geltende und skandalumwitterte Stück mit japanischen Marionetten und drei Schauspielern. Im Herbst wird es auch im Rahmen der Berliner Festwochen gezeigt. Fisbachs Avignon-Uraufführung im Papstpalast "Feuillets d'Hypnos" nach Texten des Dichters und Widerstandskämpfers René Char, der aus der Vaucluse um Avignon stammt, inszenierte er mit rund 100 Laienschauspielern aus der Region.

Europäische Selbstmordattentäter
Die handgezeichneten Bühnenbilder, Lichtwechsel und Marionetten bei "Die Wände" erzeugen starke, schöne Bilder. Doch so experimentell seine Arbeiten formal auch daherkommen, so wenig entfernen sie sich letztlich vom Konzept des linearen Textvortrags und bleiben seltsam abstrakt. Ähnliches gilt für viele der von ihm eingeladenen jungen französischen Regisseure: Bei Christophe Fiats "Das junge Mädchen und die Bombe" kehren die Schauspieler an Mikrofonen den Zuschauern die ganze Zeit den Rücken zu, während zwischen ihnen eine Videofilmerin hin- und herspringt, deren Aufnahmen man nicht sieht. Dabei erzählen sie einen abstrusen Thriller, nämlich wie eine Europäerin zur Selbstmordattentäterin wird.

In "Das Leben lebensmöglich machen" der Dokumentarfilmerin Eleonore Weber erscheinen vier Schauspieler abwechselnd auf Bühne und Leinwand, während sie über den Sinn von Sex und das Ideal der Asexualität diskutieren. Dabei ziehen sie sich immer wieder aus und an.

In der "Maschine ohne Ziel" von Gildas Milin tun Schauspieler so, als würden sie aus einer intimen Gruppensitzung heraus an einem Roboterexperiment über die Liebe teilnehmen. Dabei ist die klinisch weiße Bühne mit Schmetterlingsfotos und -kästen bedeckt und der Zuschauer kann sich auf weißen Kissen räkeln, als wäre er Teil der Session. Doch so spannend das auch klingen mag, die Aufführung bleibt im wesentlichem radikal antitheatralisch und abstrakt.

Spanische Antiglobalisierungs-Orgie mit Rasierschaum
Fürs Körperlich-Konkrete sind in diesem Jahr die Ausländer zuständig, und die verzichten dafür radikal auf Sprache: Zum Beispiel bei der neuesten Arbeit des Spaniers Rodrigo Garcia. "Durch, medium oder blutig" könnte man den Titel des Abends übersetzen, der wie die verschiedenen Garzustände des Fleisches heißt. Mit echten argentinischen Straßentänzern feiert er eine seiner wütenden, bewusst rohen und formlosen Antiglobalisierungsorgien.

Sie wälzen sich in Fleisch und Rasierschaum, der Zuschauer lässt sich von riesigen Übertiteln als saturierte Mittelschicht beschimpfen, während er in einer jener gotischen Kreuzgänge in der Provence sitzt und schamerfüllt auf der Videoleinwand zusieht, wie Riesenwürstchen gewendet werden – der übliche authentische Gestus mit einer extremen Portion Machotum. Auch der klagende Aufschrei der kongolesischen Theaterkompanie "Studios Kabako" wirkt zwar authentisch und erschreckend, aber auch formlos und unfertig: afrikanische Tänzer bemalen sich mit weißer Farbe, singen Mozarts Requiem und erzählen von Folterszenen und gescheiterten Biografien in einem Land, das sich im Chaos befindet.

Das Beste nach Mitternacht: Romeo Castellucci
Die beeindruckendste Vorstellung bleibt so die sprachlose Performance von Romeo Castellucci "Hey Girl!". Schlaftrunken stolpert man um ein Uhr nachts in die Zelestinerkirche, um minutenlang schwitzend im Kunstnebel zu sitzen – bis eine unförmige rosa Masse zu erkennen ist, die vom Tisch tropft. Daraus löst sich ein schmales, blondes Mädchen, als würde sich aus den unergründlichen, formlosen Tiefen der Kindheit ein orientierter Erwachsener schälen. Oder ist es rückwärts gedacht, ein weicher Frauenkörper entwickelt sich zum androgynen Kind zurück? Was wie eine surreale Studie über die Pubertät und eine Männerfantasie beginnt, entwickelt sich zum Kampf mit Schwertern, projizierten Worten, einer Masse anonymer Menschen, gegen die Einsamkeit – zum Schluss flimmern Auszüge aus Romeo und Julia über die Leinwand, tritt eine nackte schwarze Frau hinzu und tanzt zuckend, eine Antithese zum engelsgleichen Mädchen. Castelluccis Rätseluniversien spielen mit unbewussten Bildern und zweifellos auch mit sehr viel kalkuliertem Effekt. Aber immerhin lösen sie Gedankenschwärme aus und behaupten sie nicht nur.

Aber irgendwie reicht das alles nicht aus, um den üblichen Zauber auf dem Theaterplaneten Avignon entstehen zu lassen, dieser Kleinstadt, die sich im Monat Juli wie jedes Jahr um das Siebenfache ihrer Einwohnerzahl aufgebläht hat. Vielleicht muss sich das Festival wieder neu erfinden? Die Verträge der Leiter Hortense Archimbault und Vincent Baudriller sind jedoch gerade verlängert worden.

 

www.festival-avignon.com

Kritikenrundschau

Jürgen Berger schreibt in der Süddeutschen Zeitung (20.7.2007), dass Frédéric Fisbach, in diesem Jahr "artiste associé", mehr Wert auf textbasiertes Theater legt und sich bei der Präsentation eigener Arbeiten zurückhält. Mit der Inszenierung von René Chars "Feuillets d'Hypnos" bespiele er zwar den "großen Raum, verweigert aber dem französischen Publikum, was es so sehr liebt: Rampenpathos." Fisbach konnte damit nicht so überzeugen, wie Guy Cassiers mit einer freien Adaption von Klaus Manns "Mephisto": "Guy Cassiers hat aus Lanoyes Übermalung der Mann-Polemik ein bezwingend düsteres Traumbild über den machtlosen Künstler gemacht und wurde von einem französischen Publikum gefeiert, das sich im Fall von Peter Verhelsts 'Richard III'-Adaption eher zurückhielt." Ludovic Lagarde mache aus Verhelsts Stück mehr "ein Märchen für Abiturienten" und "belegt, dass das Avignon-Festival im Rahmen seiner Neu-Orientierung und Öffnung hin zu Theaterformen jenseits des klassischen Sprechtheaters schon noch das ein oder andere Problem hat."

Über Jean Genets "Les Paravents" in der Regie von Frédéric Fisbach schreibt Johannes Wetzel in der Berliner Zeitung (20.7.2007): "Herausgekommen ist ein angestrengt konzeptueller, kopflastiger Abend. Das teilt die Aufführung mit vielen anderen beim Festival in Avignon." (Unsere Nachtkritik hier) Weiter: "Fisbach und Novarina stehen für die Malaise großer Teile des französischen Theaters. Französische Geschichtenerzähler wie Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, die mit ihren Theaterszenen 'Les Ephémères' eingeladen ist, sterben im Zeitalter der Postdramatik aus." Andere Produktionen würden aber zeigen, dass Theater deswegen nicht bloßes Wort-Spiel zu sein braucht. "Die in Avignon reichlich vorhandenen Romane auf der Bühne eignen sich, Schauplätze und Perspektiven zu einem interessanten Bedeutungskaleidoskop zu multiplizieren." Wohlwollend schließt der Text damit ab, dass der Vertrag der beiden Festival-Direktoren soeben verlängert wurde: "Avignon bleibt damit weiterhin solchen Experimenten verpflichtet. Dass einiges danebengeht, gehört dazu."

"Wie hört ihr mich denn? Ich spreche ja von so weit…" Dieses Zitat aus dem René-Char-Abend "Feuillets d'Hypnos" gelte leider für zahlreiche Aufführungen des Festivals, schreibt Stefan Tigges in der Frankfurter Rundschau (19.7.2007). "Eine der wirklich wenigen Ausnahmen bildet nur Jean Jourdheuils Hörspielfassung von Heiner Müllers 'Quartett' mit Jeanne Moreau und Sami Frey." Valère Novarinas Eröffnungsstück "L'acte inconnu" (Der unbekannte Akt) erweise sich zwar frei von (zeit-)geschichtlichem Ballast. "Novarina vertraut in seinem Stück ganz auf die allegorische Zauberkraft der spielerischen Sprache". Jedoch gelänge es dem Regisseur nur bedingt, "die von ihm aufgespannten sprechenden Leinwände zu zerschneiden und die nuancenreichen Sprachkörper dreidimensional daraus hervortreten zu lassen." Tigges berichtet auch von französischen Reaktionen auf Frank Castorfs Céline-Inszenierung "Norden", wo man befand "dass das Schicksal der ermordeten Juden von der Regie völlig unterbelichtet bleibe und Castorf nicht weit davon entfernt sei, in die 'Untergangs'-Falle zu tappen!" (Auch wir haben darüber bereits berichtet)

In einem zweiten Text in der Frankfurter Rundschau (19.7.2007) kann Tigges dem Abend "Mefisto for ever" von Guy Cassiers/ Tom Lanoye zumindest eines abgewinnen: "Interessant ist vor allem, wie Cassiers die Figuren aus ihrer Geschichte befreit, mit den historischen Splittern spielt, den 'Systemschaden' neu vermisst und dabei eine audio-visuelle Ästhetik entwickelt, der überraschende Sprengkraft innewohnt, die sich nicht nur in Anspielungen auf den Nationalsozialismus oder das unter rechtsextremen Druckwellen stehende Antwerpen verfängt."

In der taz (19.7.2007) schreibt Andreas Klaeui, dass "Feuillets d'Hypnos" zwar durch seine Idee überzeugt (Fréderic Fisbach hat Chars Text im Papstpalast mit Laien erarbeitet), jedoch der Inszenierung "jene ästhetische Widerständigkeit" fehle, die die Arbeit von "Avignons Großmutter, Agnès Varda" stets ausgezeichnet habe und die auch in anderen eingeladenen Produktionen des Festivals zu spüren sei. Die Kritik ist sonst auf Vardas Installation "Je me souviens de Vilar en Avignon" konzentriert, Festival-Erinnerungen der Jahre 1949 bis 1955. "Es sind diese Momente, die auch heute noch 'Klick' machen, einen blitzartigen Einblick auslösen in eine ferne Zeit. Jeanne Moreau als Nathalie, Gérard Philipe auf einem Fünf-Meter-Portrait als Prinz von Homburg in der ganzen Schönheit der Legende. Man sieht alte Theaterformen und empfindet doch eine ganz frische, neue Energie, einen Aufbruch."

In der Neuen Zürcher Zeitung (16.7.2007) lässt Marc Zitzmann kein gutes Haar an dem Festival: "Der Auftakt der Jubiläumsausgabe enttäuschte. Statt neuen Bluts boten Frankreichs Theatermacher bloss alte Kamellen. Das Festival d'Avignon schaut älter aus denn je." Als "dröge, eindimensionale Kopfgeburt" fällt Novarinas Sprachspiel "L'acte inconnu" durch: "Was manche als Novarinas Sprachvirtuosität feiern, entpuppt sich schon bald als ein T(r)ick, eine manierierte Masche, die es dem Autor erlaubt, läppische Wortspielchen, Neologismen von bedingter Originalität, ermüdende Aufzählungen und erzwungene Paradoxien quasi am Laufmeter zu produzieren." Julie Brochens "L`Echange" sei irritierend reibungslos geraten: "Das Darsteller-Doppel wirft sich die Tiraden zu wie Pingpongbälle, und man spürt, dass jeder bereits auf das nächste Stichwort wartet, ohne den Spielpartnern zuzuhören." (unsere Kritik hier) Einzig Frédéric Fisbachs Inszenierung von Jean Genets "Paravents" suche eine "Darstellungsform jenseits der ausgetretenen Pfade" und schien dem Kritiker einigermaßen gefallen zu haben.

 

Kommentare  
zu Fisbach/Berlin-Avignon
Ich habe gestern in Berlin die Fisbach-Inszenierung von "Les Paravents" im Haus der Berliner Festspiele gesehen. Ich finde mich ein wenig ratlos wieder: Es war zwar nicht schlecht gespielt, aber irgendwie empfand ich es als ziemlich belanglos. Und die neuen Darstellungsformen, die in einigen Kritiken über die Aufführung positiv bemerkt werden, sind vielleicht auch eher für Schauspielzuschauer, der sich im zeitgenössischen Figurenspiel nicht auskennt, interessant. Schade eigentlich, ich fand den Ansatz ganz interessant, aber die Ausführung dann wenig fesseln: Weder vom Thema, vom Spiel noch vom ästhetischen Gehalt. Und so finde ich mich in der Kritik der Berliner Zeitung wieder.
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